Wolf, Harald: Arbeit und Autonomie – Ein Versuch über Widersprüche und Metamorphosen kapitalistischer Produktion

Wolf, Harald: Arbeit und Autonomie – Ein Versuch über Widersprüche und Metamorphosen kapitalistischer Produktion, Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 1999. 244 Seiten.

Themen: Eigenbeitrag, Fremdbeitrag, Humanressourcen, Leitbilder, Tacit Knowledge.

Abstract
Auf dem Hintergrund empirischer Befunde werden aktuelle Fragen zum Thema „entfremdete Arbeit“ beleuchtet.

Inhaltsverzeichnis
Vorwort

I. Was hat Arbeit mit Autonomie zu tun?

II. Die Hauptströmungen der Arbeitssoziologie

III. Die verdrängte Selbsttätigkeit

IV. Bausteine einer kritischen Theorie kapitalistischer Produktion

V. Die Selbstorganisation heteronomer Arbeit

VI. Aufgaben einer kritischen Arbeitssoziologie

Bewertung
Wenn auch ein wenig dem ‚Soziologen-Chinesisch‘ frönend, spürt der Autor den Bedingungen der „Selbstüberwindung des Kapitalismus“ sorgfältig nach.

Inhalt

Im Vorwort spricht Harald Wolf von der Zwielichtigkeit der Arbeit, konkret und abstrakt zugleich, „allen vertraut und dennoch schwer zu fassen“. Es gäbe mehr Experten über die Arbeit anderer als je. Ihm gehe es um den Arbeitsbegriff selbst, dessen „restriktive und instrumentelle“ Fassung nicht mehr befriedigend sei.

I.
Zunächst geht Wolf (im Anschluss an M. Castells „The Rise of the Network Society, 1996) einige Characteristica des „dramatischen Wandels“ der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse durch. Danach werden die Technologien der Wissenserzeugung, oder „das Einwirken von Wissen auf Wissen, zur zentrale Quelle von Produktivitätssteigerungen“ (S. 10); im Mittelpunkt der Innovationsanstrengungen stehen informationsverararbeitende Technologien im weitesten Sinn, Gentechnologie eingeschlossen. Netzwerkverbindungen entstehen zwischen den Unternehmen ebenso wie in ihrem Inneren. Die Kräfte des Markts werden entfesselt, und in den weltumspannenden Finanzmärkten, dem „Netz aller Netze“, finden die diversen Aktivitäten eine Bewertung. Gewinnt in diesem Umbau, fragt Wolf, die Arbeit eine neue Qualität, und wenn ja, worin besteht sie? Etwa, wie manche Zeitgenossen mehr oder weniger euphorisch meinen, in einem Trend weg von der Heteronomie der Arbeit hin zur Autonomie, also zur Selbstbestimmung? Wolf will Antworten auf diese Fragen über eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen soziologischer Arbeitsanalysen bekommen, wobei betriebliche Fallstudien, an denen der Autor zusammen mit K. Dörre und J. Neubert Anteil hatte, einfließen sollen.

II.
Unterschieden wird zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, zwischen materieller Arbeit (‚in der Produktion‘) und immaterieller Arbeit (‚am Schreibtisch‘), wobei diese Arten von Arbeit heteronom (fremdbestimmt) oder autonom (selbstbestimmt) sein könnnen.
Die arbeitssoziologischen Untersuchungen der Nachkriegszeit haben sich nach Wolf zunächst auf bezahlte materielle Arbeit gerichtet. Interessiert hätten hier im Grunde die Möglichkeiten innerbetrieblicher Demokratie. Als wichtiges Beispiel aus den 1960er Jahren werden die (an Fragen zur Mitbestimmung orientierten) Untersuchungen der Forschungsgruppe Pirker genannt. In diesem Kontext sei die These von der „Versachlichung der Herrschaft“ durch zunehmende Technisierung entstanden.
In den 70er Jahren stand die Kern/Schumann’sche Studie „Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein“ im Mittelpunkt der arbeitssoziologischen Diskussion (in Deutschland), mit ihrer Hauptthese von der Qualifikationspolarisierung bei fortschreitender Technisierung des Produktionsprozesses. Wolf hebt hervor, dass die genannte Studie von der Frage nach der Herausbildung von ‚Klassenbewusstsein‘ geprägt war und dieses empirisch unter den Gesichtpunkten der Entlohnung, der Stellung auf dem Arbeitsmarkt, der Partizipationsmöglichkeiten und der ‚eigentlichen Arbeit‘ (des Arbeitsvollzugs) untersucht worden ist; die ‚eigentliche Arbeit‘ sei dabei explizit als vom Umgang mit Maschinen bestimmte „technische Arbeit“ verstanden worden.
Schon während der 70er Jahre habe es jedoch eine Abkehr von der technikzentrierten Betrachtung von Arbeit gegeben, sichtbar auch in der gegen Mitte der 80er Jahre erschienenen zweiten Kern/Schumann-Studie zur Frage „Ende der Arbeitsteilung?“ Jetzt seien die Menschen als handelnde Akteure in den Vordergrund gerückt, wobei sich die Aufmerksamkeit auch auf die Handlungsstrategien im Management gerichtet hätten. Zum großen Thema, auch in angloamerikanischen Untersuchungen, wurden die Gestaltungsspielräume in den Betrieben, wie Wolf zeigt. Die Situation wird dabei, beispielsweise durch Cressey/MacInnes, sowohl für ‚die Unternehmerseite‘ als auch für die ‚Arbeiterseite‘ als zwiespältige analysiert. Denn die Unternehmer seien einerseits zum Herrschaftserhalt mit den Konsequenzen der Disziplinierungen gezwungen, andererseits zur Konsenssuche für die Nutzung kreativer Potentiale; entsprechend seien auch die Arbeitenden hin- und hergerissen, einerseits dem auf ihre Ausnutzung gerichteten Herrschaftsanspruch Widerstand entgegenzusetzen, andererseits sich im Sinne der Erhaltung ihrer Arbeit zu arrangieren. (S. 55 f)
Für Wolf sind die bisherigen Betrachtungsweisen von Arbeit ungenügend; zumindest drei Momente müssten in einem revidierten Arbeitsbegriff eine Rolle spielen:
(1) Durch die Verengung der Arbeit auf Erwerbsarbeit (bezahlte Arbeit) sei der Arbeitsbegriff in gewissem Sinne ‚geschlechtsblind‘, weil die maßgeblich von Frauen getragene (unbezahlte) reproduktive Arbeit herausfällt; das Geschlechterverhältnis muss demnach also mit ins Blickfeld rücken.
(2) Ebenso sei die Informatisierung der Arbeit ein bedeutsamer Focus. Von manchen Autoren — Lazzarato wird hier genannt — werde geradezu ein kommunikationstheoretisches Modell organisierter Arbeit verlangt bzw. im Ansatz entworfen, in dem die kommunizierenden Subjekte zu ihrem Recht kommen. In diesem Zusammenhang wird, aus Deutschland stammend, der Ansatz von Thomas Malsch referiert, der als das Neue in informations- bzw. wissensorientierter Arbeit (neu gegenüber dem auf Fremdbeobachtung setzenden „tayloristischen Modus der Wissensgewinnung“) die auf Selbstbeobachtung beruhende „subjektive Informationsleistung“ herausstellt; wichtige Kategorien für die Analyse von Arbeit sind nach diesem Ansatz die Begriffe Eigenbeitrag und Fremdbeitrag. (S. 62 – 64)
(3) Als weiteres Moment für einen erweiterten Arbeitsbegriff wird das genannt, was im Englischen als ‚tacit knowledge‘ bezeichnet wird, ein stilles Wissen, das — wie von Lullies/Bollinger/Weltz/Ortmann gezeigt — gerade auch in stark reglementierten Arbeits-verhältnissen durch die Bildung informeller (Gegen-) Organisation erzeugt wird und für den Erhalt des jeweiligen sozialen Organismus‘ lebensnotwendig ist.
Ungelöst ist aus Wolfs Sicht auch nach alledem das „Problem der Heteronomie“. Weithin bekannt seien inzwischen organisatorische Bestrebungen, die sich durch ‚Dezentralisierung‘, ‚flache Hierarchien‘, ‚Delegation von Verantwortung‘, ‚kurze Entscheidungswege‘, ‚Synthese von planender und ausführender Arbeit‘ beschreiben lassen; doch in der Realität, wie auch im „Trendreport Rationalisierung“ festgestellt, vollziehe sich dieses in unterschiedlichsten Varianten. Das dahinter stehende Problem ist für Wolf eben das der Heteronomie; im Kern sieht er es im ‚Doppelcharakter‘ des etablierten Arbeitsprozesses, in dem „die Arbeitenden in ihm immer wieder zum Objekt, zum Mittel, zum Enteigneten gemacht werden, andererseits aber … zugleich Subjekte, Tätige und Aneignende sein und bleiben müssen.“ (S. 75)

III.
„Selbsttätigkeit“, der leitende Begriff dieses Kapitels, wird definiert als „ein Arbeitshandeln, das nicht abgedeckt ist von den offiziellen betrieblichen … Vorgaben.“ (S. 81)
Die Rationalität der Arbeitsabläufe in einem Betrieb, so die Argumentation von Wolf, ist eine arbeitssoziologische Fiktion; mit gleichem Recht könne man von der Irrationalität solcher Abläufe aussgehen. Tut man dies, so lässt sich nach Wolf ein bedeutender Faktor betrieblichen Handelns, der allerdings versteckt ist, aufdecken, wie dies durch eine Reihe von empirischen Untersuchungen erfolgt ist: eben die ‚Selbsttätigkeit‘, ohne die ein sinnvolles Arbeiten in einem Betrieb mitunter gar nicht möglich ist. Dieses versteckte Tun, bei dem die Arbeitenden einzeln oder gemeinschaftlich aus eigenem Antrieb handeln, entstehe im Wesentlichen aus zwei Bedingungen. Erstens, wenn problematische Situationen im Produktionsablauf entstehen; sie können (a) durch technische oder organisatorische Störungen wie Kompetenzprobleme, krankheitsbedingte Ausfälle, nicht beeinflussbare Terminüberschreitungen etc. eintreten, (b) durch Neuerungen oder andere Veränderungen in den Abläufen, (c) durch systematische Fehlplanungen. Zweitens, wenn die Interessen der Arbeitenden (in unerträglicher Weise) verletzt werden. In jedem Fall habe selbsttätiges Handeln kompensatorische Funktionen, durch die ‚Normalverhältnisse‘ hergestellt werden.
Das Wissen um die Möglichkeiten von selbsttätigem Handeln, betont Wolf, sei ausgesprochen schwer zu objektivieren, weil es typischerweise aus dem unmittelbaren Arbeitsprozess hervorgeht und oftmals strikter Geheimhaltung unterliegt. Als Beispiel aus einem materiellen Produktionsprozess wird der Schleifraum von Drehern, die im Akkord arbeiten, angeführt; dort können sie Erholungszeit gewinnen, wenn sie mit ihren speziellen Kniffen ihre Instrumente schneller schleifen als es der Normabteilung bekannt ist.
Dergleichen Dinge, so Wolf weiter, können dem Management natürlich auch bekannt werden; doch selbst dann sei vielfach stillschweigende Duldung angesagt, damit nicht das Minimum an Vertrauen, das für jegliches Arbeiten unabdingbar ist, unterminiert wird. Doch auch aus der Perspektive der Mitarbeiter sei ‚Selbsttätigkeit‘ eine zweischneidige Angelegenheit; denn so sehr sie in einer Hinsicht Entlastung bringen kann, könne sie in anderer Hinsicht — da sie als ’normabweichendes‘ Verhalten geahndet werden kann — Belastung bedeuten.
Als „paradoxen Hauptbefund“ hält Wolf hier fest: „Selbsttätigkeit ist eine wesentliche Bedingung heteronomer Arbeit …“ (S. 101)

IV.
Um „Bausteine einer kritischen Theorie kapitalistischer Produktion“ zu gewinnen, knüpft Wolf an den Begriff des ‚Imaginären‘ bei Castoriadis an, womit ideelle Schöpfungen gemeint sind wie zum Beispiel ‚Nation‘, ‚Gott‘, ‚Kapital‘ etc., an denen eine Gesellschaft ihr Handeln ausrichtet. Auch die „konkrete Utopie“ der Autonomie gehöre zu solcherart Schöpfungen, die in Castoriadis‘ Denkweise zweimal in der Menschheitsgeschichte zur gesellschaftlichen Realität geworden ist, nämlich im politischen Raum der antiken und der modernen Demokratie. Im kapitalistischen Produktionsprozess, oder unter Bedingungen entfremdeter Arbeit sei ‚Autonomie‘ allerdings (noch) nicht realisiert; dieser ökonomische Raum sei vielmehr durch eine grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet: den permanenten Einschluss und Ausschluss der Arbeitenden bei seiner Gestaltung, wodurch diese sowohl als selbsttätige Subjekte wie auch als manipulierte Objekte anzusehen sind.
Hier kommt nun eine bestimmte Sorte von ‚Imaginationen‘ ins Spiel, nämlich Leitbilder bzw. sogenannte Rationalisierungsmythen, wie sie unter anderen von Deutschmann behandelt worden sind. Als deren aktuellste sieht Wolf das (neotayloristische) Modell des „Systems Rationalism“ und, seit den 1980er Jahren relevant, das „Organizational Culture“-Modell, von denen das erstere eher den Ausschluss der betrieblichen Mitarbeiter von der Gestaltung des Produktionsprozesses, das zweitere eher deren Einschluss in die Gestaltung befördere. In solchen wechselnden Leitbildern vollziehen sich nach Wolf die historischen Metamorphosen der Organisierung von entfremdeter Arbeit. „Es ist das Bild einer gebrochenen, in sich zerissenen, ein Doppelleben führenden Institution. Arbeit nimmt im Kapitalismus eine duale, zwieschlächtige, durch und durch zwielichtige Gestalt an.“ (S. 136)

V.
In diesem Kapitel wird versucht, die gegenwärtigen Entwicklungen der organisierten Arbeit zu deuten. Wolf beschreibt diese unter dem Vorzeichen von Dezentralisierung mit dem Augenmerk auf ‚Humanressourcen‘ stehenden Entwicklungen unter anderem durch die Ausbildung teamförmiger Organisationseinheiten, deren Aufgaben sich erweitern; durch die Rücknahme tiefgestaffelter Hierarchien; durch modulare Unternehmenstrukturen; durch die Hereinnahme von Marktbeziehungen in die Binnenorganisation der Unternehmen. Und er fragt, was das alles für die Herrschaftsdimension von Arbeit zu bedeuten hat. Ist es eine Fortsetzung des gehabten Kapitalismus mit neuen Mitteln oder hat man es mit einer noch nicht gehabten, neuen Logik der Produktion zu tun?
Hier nun (S. 147 f) kommt Wolf in eine Kontroverse mit Deutschmann. Dieser habe (in seinen Ansätzen zu einer Theorie der modifiziert wiederkehrenden Rationalisierungsmythen/MF) nicht befriedigend darlegen können, wie eine Selbstüberwindung der kapitalistischen Produktionsweise möglich ist. Den Grund für diesen Mangel sieht Wolf in einer „eindimensionalen“ Fassung dessen, was Produktivität ausmacht. Heute (unter den gegebenen Bedingungen der Dezentralisierung) zeigten die arbeitssoziologischen Befunde eine extrem widersprüchliche Bewegung der Produktivitätsentwicklung, indem die „Selbstorganisation“ der Arbeit durch die Arbeitenden zum Programm der Unternehmensführungen wird. Die Widersprüche und damit die Konflikte würden sich unter diesen Umständen auf zwei Fragen konzentrieren: a) wessen Gruppe? — oder die Frage, wem die ’selbst-organisierte‘ Gruppe ‚gehört‘, und b) wessen Leistung? — oder die Frage, wem die Leistung der ’selbstorganisierten‘ Gruppe ‚gehört‘. (S. 163 ff)
Und wie sieht Wolf, möchte man fragen, die Möglichkeit der ‚Selbstüberwindung‘ kapitalistischer Produktion? Darin, dass die Konflikte kommuniziert werden und per Kommunikation die Arbeit „neu instituiert“ wird. Diesen Prozess zu begleiten, sei die vornehmste Aufgabe kritischer Arbeitssoziologie.

VI.
In seiner Schlussbetrachtung zitiert Wolf (S. 187, nach Gudrun-Axeli Knapp) einen — in gewisser Weise banalen und doch nicht banalen — Satz, der Treffpunkt und methodischer Ausgangspunkt verschiedener Richtungen der Arbeitsforschung sein könnte: „Die Arbeitenden sind die alleinigen Experten ihrer Erfahrung.“
Für Wolf impliziert der Satz, dass gerade in Deutschland teilnehmende Beobachtung der Forschenden und Selbstbeobachtung der Arbeitenden ihr Recht als Erkenntnisquellen bekommen sollen.

19.11.2001; MF