Rötzer, Florian: Megamaschine Wissen – Vision: Überleben im Netz

Rötzer, Florian: Megamaschine Wissen – Vision: Überleben im Netz, Campus Verlag Frankfurt, New York 1999. 260 Seiten.

Themen: Cyberspace, Cyborgs, HTML, Knowledge Worker, UNL, Wissen.

Abstract
Der Chefredakteur des Online-Magazins „Telepolis“ behandelt eine Reihe aktueller Themen der „Informations- bzw. Wissensgesllschaft“.

Inhaltsverzeichnis
Lebenswelt Cyberspace (F. Rötzer)

— Was auf uns zukommt
— Ein neuer Lebensraum wird geschaffen
— Neue Öffentlichkeiten
— Abschied von der Privatsphäre
— Der Krieg im Zeitalter des Cyberspace
— Wie die Megamaschine Wissen entstand
— Wie lässt sich die Kluft schließen?
— Wem gehört das Wissen?
— Freier Zugang zu Informationen und Software
— Virtuelle Bildung und der Kommerz
— Wissen als öffentliches Gut bewahren

Cyborgs, Gene und venetzte Planeten (Ch. Lumsden)

Die Dritte Welt und das Internet (R. Verzola)

Das globale Gemeinwohl (Ph. Quéau)

Mittel- und Osteuropa stolpern in eine digitale Zukunft (J. Horvath)

Das virtuelle Sit-in (St. Wray)
Bewertung
Ein Querfeldein-Streifzug eines Robin Hood des Cyberspace, Beschützer der Hacker und Cracker.

Inhalt

„Was auf uns zukommt“, ist nach Florian Rötzer ein Exodus besonderer Art, in dem man anders als bei einer gewöhnlichen Auswanderung in eine neue Welt geht und doch zugleich in der alten Welt bleibt. Mit Blick auf das 21. Jahrhundert spricht Rötzer vom „Ubiquitous Computing“, wo die Menschen mit Bodynets und winzigen tragbaren Geräten mittels der Sprache „Bodytalk“ miteinander in Verbindung stünden, wo die Abfalleimer vernetzt seien, wo die alten Menschen einen Roboter zur Verfügung hätten, der zugleich Überwachungsfunktionen für das überlastete Pflegepersonal wahrnähme, und wo man Computer als Lügendetektor einsetzen würde, die am Gesichtsausdruck von Kommunikationspartnern verräterische Äußerungen zu erkennen imstande seien (S. 8 – 14).

Von dieser Sicht der Zukunft wandert Rötzer dann zurück zu den Ursprüngen jenes „neuen Lebensraums“. Es sei bezeichnend, dass sie von Wissenschaflern ausgegangen sind, besonders den US-amerikanischen, die 1969 durch Vernetzung von vier Computern das ARPANET, unmittelbarer Vorgänger des Internets, einen wichtigen Schritt in die neue Lebenswelt unternommen haben. Gekennzeichnet sei diese durch eine beispiellose Dynamik, die besonders in den 1990er Jahren sichtbar geworden ist, und die sich darin äußert, dass man in den USA bereits mit dem Aufbau eines „Internets 2“ begonnen hat. (S. 23)

„Neue Öffentlichkeiten“ ist der nächste Abschnitt überschrieben.
Der Umgang mit dem Gebilde des Internets zeigt derzeit von Region zu Region zu Region beträchtliche Unterschiede: In den USA wurde das „Freedom of Information-Gesetz“, dessen Liberalität schon in seinem Titel ausgedrückt ist, verabschiedet; charakteristisch für die USA ist auch, dass dort — und diesem Zweck dient offenbar das Austesten des nur für Universitäten zugänglichen Internet 2 — eine langfristige, auf nationalen Vorteil bedachte Medienpolitik betrieben wird. Eine völlig andere Situation sei etwa in Burma, wo das Internet verboten ist. In China gäbe es Zensur oder zumindest eine starke Staatskontrolle, indem (seit 1995) Internet-Benutzer sich polizeilich registrieren lassen müssen; andererseits könne man in China auch von Internetuntergrundorganisationen sprechen. In Ländern wie Ägypten, Libyen, Jordanien sei nach anfänglicher Zensur deren Lockerung zu beobachten. Eine besondere Situation gäbe es im Irak und in Syrien, wo Privatpersonen keinen Zugang zum Internet haben. (S. 32 -39)
Auch als unmittelbares politisches Instrument wird das Internet in einzelnen Regionen recht unterschiedlich gehandhabt. In den USA gibt es kostenlose Dienste für das Verschicken von E-Mail-Petitionen. In Mexiko hat die Zapatista-Befreiungsbewegung zu „Volksentscheiden“ im Internet aufgerufen. Und Kurdistan existiert zwar nicht als Staat, aber als ein die kulturelle und politische Identität der weltweit 16 Millionen Kurden (700 000 in Deutschland) fördernder Begriff, der von einem in London ansässigen Sender und im Internet auf Webseiten wie „Kurdistan-Web“ verbreitet wird. (S. 43 – 48)
Ein bemerkenswertes Phänomen sind ferner die sogenannten Hass-Gruppen, unter anderem Ku Kux Clan-Leute und Neonazis, deren Einfluss im Internet im Wachsen begriffen ist. Zu nennen sind auch Gruppen, die ihre Gegner im Internet an den Pranger stellen, so etwa Abtreibungsgegner, welche die Namen von Abtreibungsärzten unter der Rubrik „Baby-Schlächter“ veröffentlichen. (S. 50 f)

Unter „Abschied von der Privatsphäre“ behandelt Rötzer einige Erscheinungen telemedialer Überwachungen. Damit sind nicht nur die derzeit zahlreich werdenden Überwachungskameras gemeint, sondern auch die sogenannten Computerfesseln; mit ihrer Hilfe hat man in den USA begonnen, die überfüllten (und vergleichsweise teuren) Gefängnisse durch Verhängung einer Art Hausarrest zu entlasten, bei dem die Straftäter elektronisch überwacht werden; durch eine neue elektronische Fessel namens SMART ist diese Überwachung in Echtzeit möglich. (S. 56)

„Der Krieg im Zeitalter des Cyberspace“ habe schon im Kosovo-Krieg seine erste Facetten gezeigt. Durch die serbische Regierung sei schon bald nach Kriegsbeginn die Reichweite eines unabhängigen Senders eingeschränkt worden; dieser habe dann, mit Hilfe eines holländischen Providers, seine Nachrichten via Internet verbreitet.
In Zukunft werde in Kriegssituationen die Störung von Informationsnetzen, um Panik zu verbreiten, eine beträchtliche Rolle spielen; als Vorsorge dagegen hätten die Geheimdienste der USA und Großbritanniens das „Echolon-System“ entwickelt, das routinemäßig alle über Satelliten laufenden E-Mail-, Telefon-, Telex- und Faxkommunikation nach „gefährlichen“ Stichworten und Namen durchsucht. (S. 81)

Zur „Megamaschine Wissen“ zählt Rötzer
— den genetischen Code
— die mündliche Sprache
— die Schriftsprache
— die Telekommunikation.
Von der Schnelligkeit der Ausbreitung einer kommunikablen Sprache hänge eine „produktive Wissenszirkulation“ ab, die für kulturelle Explosionen verantwortlich sei (S. 91 f). In diesem Sinne sei Wissen, praktisches und tradiertes Wissen, seit jeher die größte Produktivkraft. Es sei nicht identisch mit Information.
Information: Spracheinheiten, die aufgenommen werden;
Wissen: deren Verarbeitung und Anwendung. (S. 95)
In der Wissensgesellschaft, wie Rötzer den neu entstehenden Raum vorzugsweise nennt, seien die Unternehmen zwar mächtig, aber sie hätten im Vergleich zur vorangegangenen Industrie wenige Angestellte, wobei die Wissensbeschaffung (aus Gründen der Spezialisierung) typischerweise von außen erfolge. Wichtig werde, zu lernen, wie man lernen und flexibel sein kann.
Für die eigentlichen Wissensarbeiter (knowledge worker) stünden schlechte Zeiten vor der Tür, wobei Rötzer zur Begründung arbeitsbedingten Stress, permanent wechselnde Situationen und dauernde Anpassung an neue Techniken bzw. neues Wissen nennt. (S. 97)
Den neuen Typus nennt Rötzer im Sinne einer amerikanischen Wortschöpfung als „Flexecutive“: „Der flexible, prinzipiell stets zur selbstbestimmten Arbeit in Eigenverantwortung bereite Mensch wird als Prototyp der Informations- oder Wissensgesellschaft bezeichnet.“ (S. 100)
Der Preis für das geforderte ständige Wach- und Flexibelsein seien heute um sich greifende Nervositäten wie Aufmerksamkeitsschwächen und Schlafstörungen. (S. 101 – 103)

Mit der „Kluft“, die er im nächsten Abschnitt thematisiert, meint Rötzer eine Kluft in der Wissensverteilung. Die Schriftkultur, führt er aus, ist nicht global: Es gibt etwa 850 Mio. Analphabeten, d.h. ein Sechstel der Menschheit, wobei zwei Drittel von ihnen Frauen sind. Dies sei deshalb ein gefährlicher Zustand, weil die Nicht-Schriftkundigen von der Informationsgesellschaft drohen ausgeschlossen zu werden. Um allen Kindern eine Grundausbildung zu geben, müssten laut UNICEF (zehn Jahre lang) jährlich etwa 7 Mrd. Dollar ausgegeben werden, soviel, wie Amerikaner jährlich für Kosmetik ausgeben (S.106 f). Es bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass jene Kluft zwischen Regionen, die reichlich über die Ressouce Wissen verfügen, und den in dieser Hinsicht armen Regionen sich noch vergrößert. Andererseits gäbe es aber auch die Hoffnung, dass sich durch das Internet der Wissenstransfer schnell globalisiert; Länder mit unterentwickelter Kommunikationsstruktur könnten ihren Nachteil unter Umständen in einen Vorteil ummünzen, etwa wenn statt kostspieliger Investitionen in ein Telefonnetz gleich ins Internet ‚gesprungen‘ wird.
Der Autor kommt in diesem Zusammenhang auf eine in Entwicklung begriffenen neue Sprache zu sprechen: UNL, an der im UN-Institute of Advanced Studies in Tokio gearbeitet wird. Diese Sprache ist weder als eine neue Lingua franca noch als ein neues Esperanto gedacht, sondern als eine Mittlersprache zwischen den im Internet verwendeten bzw. verwendbaren natürlichen Sprachen.
Derzeit sind die Sprachen der im Internet Verbundenen folgendermaßen verteilt (S. 119):
Englisch – andere europäische Sprachen – asiatische Sprachen:
56 % – 30 % – 13 %.
UNL ist eine aus HTML (Hypertext Markup Language) weiterentwickelte Computersprache, die durch ein spezielles Programm interpretiert werden kann bzw. dies können soll. Geplant ist, dass Texte mittels eines „Econverters“ in UNL übersetzt und mittels eines „Deconverters“ in eine andere Sprache rückübersetzt werden, zum Beispiel Englisch — UNL — Chinesisch, oder umgekehrt. Das Lexikon für diese in einem großangelegten Projekt entwickelte Computersprache besteht aus sogenannten UWs (Universal Words); sie werden registriert in den Bedeutungen, die sie inverschiedenen Sprachen annehmen können. Erscheint eine Übertragung als problematisch, wird das Wort abgewiesen. Im Jahr 1997 gab es über 200 000 UW-Eintragungen in Englisch, etwa 100 000 in Deutsch. Im Vordergrund der entsprechenden Übersetzungsarbeit stehen Wissenschafts-, Software- und E-Commerce-Wörter.
UNL, oder United Nations Language, soll kostenlos zugänglich gemacht werden. (S. 120 f)

„Wem gehört das Wissen?“ — Privateigentümern oder der Öffentlichkeit, ist nach Rötzer der primäre Konflikt in der Wissensgesellschaft. Würde beispielsweise UNL Eigentum einer Firma werden, so würde diese (sehr) reich werden auf Kosten einer zähneknirschend bezahlenden Allgemeinheit.
Reale Anzeichen für diesen Konflikt seien folgende: Die Copyright-Industrie wächst derzeit doppelt so schnell wie die anderen Industriezweige, Zeichen für eine wachsende Bedeutung von Wissen als Privateigentum. Andererseits lässt sich auch feststellen, dass eine große (vermutlich wachsende) Zahl von Menschen nicht bereit ist, Gebühren für geistiges Eigentum zu bezahlen; dies drückt sich aus in den 13 Mrd. Dollar, auf die für 1998 der Wert von Raubkopien und der Beute aus der Software-Piraterie geschätzt wurde. (S. 121)
Die stark wachsende Bedeutung von Information als immateriellem Gut bei gleichzeitig stark abnehmender Bedeutung materieller Güter auf dem Weltmarkt, schlägt sich in folgender, von der Weltbank erhobenen Statistik nieder (S. 122):
Anteil am Export 1976 – 1996:
High Tech-Güter 11 % – 22 %
Primärgüter 45 % – 25 %.
Ein besonderer Fall, wo der Konflikt ‚privat‘ versus ‚öffentlich‘ offensichlich auf Verschärfung zusteuert, ist der um Informationen über das menschliche Erbgut. Seit 1990 sind Wissenschaftsteams in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Methoden an der Erfassung des aus schätzungsweise 80 000 Genen und 3 Mrd. DNA-Sequenzen bestehenden menschlichen Genoms beteiligt. Dieser Prozess findet als Wettlauf zwischen öffentlichen und privaten Institutionen statt, und das Problem ist virulent geworden, wer die Informationen darüber (angesichts eines erwarteten enormen medizinischen Zukunftsmarkts) ausbeuten darf; konkret erscheint dieses Problem in der durch die Rechtsprechung zu lösenden Frage, ob eine Entschlüsselung eines oder vieler Gene ein Patent auf die entsprechende Information rechtfertigt oder nicht. (S. 123 – 125)

„Freier Zugang zu Informationen und Software“ heißt die programmatische nächste Überschrift. „Wissen sollte offen zur Verfügung gestellt werden, mit entsprechender Würdigung des Urhebers.“ (S.133)
Als Begründung führt Rötzer an, am Beginn des Cyberspace habe eine „wissenschaftliche Kultur des öffentlichen Wissens“ gestanden (S. 136). Zur Beleuchtung der Problematik, wie eine gerechte Aneignung von Wissen vor sich gehen könnte, kommt der Autor hier noch einmal auf die Analogie der Aneignung von Boden zu sprechen, speziell durch Auswanderer in eine ‚andere Welt‘. Ein brauchbares Modell in diesem Fall sei, dass der Boden nicht gekauft, sondern in Besitz genommen wird; durch Arbeit kann er dann zum Eigentum werden. Doch ist dieses Modell wirklich auf den ‚geistigen Boden‘ übertragbar? — fragt der Autor selbst. Es erscheine ihm seltsam, dass man Ideen wie Land oder andere Dinge in Besitz nehmen könne, ebenso seltsam, wie wenn dies mit dem Wasser des Meeres oder mit der Luft versucht würde. (S. 147)

Es folgt ein Ausflug zu „virtuelle Bildung und der Kommerz“, in das Gebiet eines neu entstehenden Riesenmarkts. Auch hier stelle sich wieder das Problem: Wem gehört zum Beispiel der Inhalt einer Standard-Vorlesung? (S. 165)

„Wissen als öffentliches Gut bewahren“ lautet der Schlussappell, das finale Kapitel, in dem die Hacker und Cracker wie die ‚guten alten Brüder‘ behandelt werden. Denn „in gewissem Sinne“ würden sie dafür sorgen, „dass in die Zäune des Eigentums Löcher geschlagen werden und eingesperrtes Wissen an die Öffentlichkeit kommt …“ (S. 171)
Rötzer formuliert am Ende noch zwölf längere Thesen, die dahin zusammengefasst werden können, dass es am besten ist, wenn der Zugang zu den Daten des Internet nicht behindert wird.

Den Ausführungen von Florian Rötzer angehängt sind mehrere recht unterschiedliche Beiträge:
(1) Ein Beitrag von Charles Lumsden, der (S. 179 f) eine bemerkenswerte Auflistung von Innovationen enthält, die für die moderne Informationstechnologie relevant sind, nämlich
— 1906 die Vakuumröhre durch De Forest
— 1947 der Transistor durch Bardeen, Brattain und Schockley
— 1957 der integrierte Schaltkreis durch Kilby und Noyce
— 1969 das Arpanet, Vorgänger des Internet
— 1971 der Computerchip durch Ted Hoff
— 1975 der erste Mikrocomputer durch Ed Roberts
— 1981 der Personal Computer (IBM)
Diese Informationen stehen im Kontext einer Science Fiction-artigen Fortschreibung evolutionärer Prozesse, bei denen der Autor in fernerer Zukunft eine Herstellung von Mikrochips erwartet, aus denen Nervenzellen wachsen können, und die Entstehung von „Cyborgs“, wie in Science Fiction-Filmen Mensch/Computer-Zwitterwesen genannt werden.

(2) Ein Beitrag dann von Robert Verzola, der durch die Internet-Entwicklung auf Länder wie die Philippinen eine neue Kolonisationswelle hereinbrechen sieht; in diesem Beitrag wird auch eine Katastrophe durch das Jahr-2000-(Computer-)Problem vorhergesagt, die bekanntlich nicht eingetreten ist.

(3) Ein Beitrag von Philippe Quéau über „globales Gemeinwohl“; er beklagt die Macht der USA im Internet.

(4) Ein Beitrag von John Horvath, der auf zwei Gruppen von ehemaligen Ostblock-Ländern hinweist, von denen die eine Guppe (Tschechien, baltische Länder, Polen, Ungarn, Slowenien) auf einer „schnelleren Spur“ Anschluss an Informationstechnologie sucht, die andere Gruppe (Rumänien, Bulgarien, Russland) auf einer „langsameren Spur“.

(5) Schließlich noch ein Beitrag von Stefan Wray, der über ein 30 Jahre nach 1968 ausgebrochenes „Fieber“ berichtet, in dem in mehreren Ländern Aktionen wie Sitzblockaden und gezielter Hausfriedensbruch speziell auf Webseiten von Regierungen übertragen wurden.

19.11.2001; MF