Sproull, Lee / Kiesler, Sara: Vernetzung und Arbeitsorganisation

Sproull, Lee / Kiesler, Sara: Vernetzung und Arbeitsorganisation, in: Spektrum der Wissenschaft. Dossier 1: Datenautobahn (Dossier 1/1995), S. 52-60.

Themen: Arbeitswissenschaft, Kommunikationsstile, Kommunikationsverhältnisse, Personalmanagement, Psychologie, Unternehmensstrukturen, Telemanagement.

Abstract
Sproull/Kiesler gehen davon aus, daß der vernetzte Informationsaustausch in Organisationen sich ganz wesentlich vom direkten und persönlichen Gespräch unterscheidet. Darüber hinaus verändert die computervermittelte Kommunikation (cvK) auch die Organisationsstrukturen und Arbeitsabläufe stark. Sie konstatieren überraschende Effekte beim Gebrauch der Technik, die sowohl theoretischen Voraussagen als auch den Erwartungen des Managements widersprechen.

Inhaltsverzeichnis
1. Soziologische Feldstudien
2. Experimente mit Computer-Netzen
3. Computer als Gesprächspartner
4. Neuartige Gruppenstrukturen
5. Wandel der Firmenhierarchie
6. Rolle des Managements

Bewertung
Kiesler und Sproull gehören zu den Pionieren der Erforschung vernetzten Arbeitens. Sie wiesen als erste auf die ‚weichen‘ Faktoren des Computer-Einsatzes hin und ihre Überlegungen zum „two-level-perspective-approach“ sind auch in den vorliegenden Text eingeflossen. Ihre Befunde zu flacheren Hierarchien in Organisationen stellen den Ausgangspunkt der aktuellen Forschung zum vernetzten Arbeiten dar. Die ebenfalls im vorliegenden Text eingewobene Filter-Theorie, wonach die rein text-vermittelte cvK enthemmende und egalisierende Wirkungen nach sich zieht, ist in jüngster Zeit vielfach diskutiert worden (Döring 1999, 214ff., Stegbauer 1995)

Inhalt

1. Soziologische Feldstudien
Sproull/Kiesler kommen mit zwei Methoden zu ihren Ergebnissen:
a.) Experimentelle Laborsituationen (zur Untersuchung von Kleingruppenreaktionen)
b.) Felduntersuchungen in echten Großorganisationen
Für die AutorInnen liegt der eigentliche Vorteil der vernetzten Kommunikation nicht so sehr in der rascheren Kommunikation oder der größeren Leistungsfähigkeit, sondern darin, „daß sich damit das gesamte Arbeitsumfeld und die Fähigkeiten der Beschäftigten beeinflussen lassen“ (S.52). Via E-Mail ist ein spontaner und informeller Ideenaustausch entstanden. Daher richteten viele Organisationen interne Netze ein, die die Mitarbeiter und Angestellten gegenseitig verbinden. In welcher Weise sich das Kommunikationsverhalten entwickelt, hängt von der jeweiligen Management-Politik hinsichtlich der internen Kommunikation ab. Sproull/Kiesler unterscheiden vernetzte Organisationen, in denen der Zugang allen möglich ist, von Organisationen, in denen das Management den Gebrauch einschränkt. Sie betonen, daß auch in Organisationen mit offenem Zugang es sehr schwierig ist, die Auswirkung von Vernetzung auf die Kommunikationsstruktur vorherzusagen. Frühe Annahmen der Forschung hinsichtlich rational geführterer Diskussionen in Organisationen mittels cvK wollen sie nicht umstandslos bestätigen. Dadurch, daß bei cvK soziale und situationsabhängige Anhaltspunkte wegfallen, die bisher die Gruppendynamik regulierten und bestimmten, fehlt der sich nicht von selbst ergebende Kontext einer Information.

2. Experimente in Computer-Netzen
In ihren Laborexperimenten zur einvernehmlichen Entscheidungsfindung mittels cvK stellen die AutorInnen im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation fest, daß alle untersuchten Gruppen mittels Netz längere Zeit benötigten, allerdings eine gleichmäßigere Beteiligung und ein größerer Ideen-Output konstatierbar sind. Gleichzeitig stellen sie bei den cvK-Diskussionen aufgrund der Anonymität das Aufflammen heftigerer Gefühlsausbrüche fest. Bisher war die gesellschaftliche oder die berufliche Stellung ein machtvolles Regulativ von Gruppenprozessen. Sie konstatieren, daß der Redeanteil und der Einfluß höhergestellter Teilnehmer zurückgegangen ist. Sie führen das auf eine reduzierte Wirkung von Statusmerkmalen zurück und fragen, ob das von Vor- oder Nachteil ist. Im Falle von tatsächlicher Höherqualifizierung dieser Teilnehmer könnte das ein Nachteil sein. Wenn aber körperliche Merkmale oder wenig selbstbewußte Menschen dabei eine Rolle spielen, sehen sie es als Vorteil.

3. Computer als Gesprächspartner
Sproull/Kiesler interpretieren diesen Sachverhalt dahingehend, daß dort, wo es nur geringe Anhaltspunkte für den gesellschaftlichen Kontext gibt, die eigene Situation auch weniger beachtet wird und die Beteiligten aufhören, sich über die mögliche Beurteilung ihrer Person durch andere Sorgen zu machen. Die Folge ist ein geringerer Grad „gesellschaftlicher Verstellung“. Es wird weniger Zeit und Mühe für unverbindliche Freundlichkeiten verwendet und es ist eine größere Ehrlichkeit anzutreffen. Ihre Experimente ergaben auch, daß computergestützte Erhebungen anders ablaufen als klassische Fragebogenerhebungen: „In elektronischen Diskussionen ist man unbeschwerter und weniger schüchtern: man äußert Meinungen und Ideen freier und zeigt mehr Gefühle“ (S.56). Solche Verhaltensänderungen könnten Organisationen „ganz ungeahnte Möglichkeiten“ der Beratung und Befragung von heiklen Themen sowie der Entschärfung von Situationen eröffnen.

4. Neuartige Gruppenstrukturen
Aus der beobachteten Dynamik von elektronischer Kommunikation (im Unterschied zu verbalem oder brieflichem Austausch) schließen die Autoren, daß diese mittels cvK gebildeten Gruppen einerseits durchaus herkömmlichen sozialen Zirkeln ähneln – sie unterhalten wechselseitige Beziehungen, entwickeln eigene Verhaltensformen oder erzeugen Gruppendruck -, andererseits umfassen sie oft mehr als hundert Mitglieder, die Interessen teilen, einander aber nicht unmittelbar kennen. Eine solche Vernetzung trifft zumeist jedoch noch auf eine Arbeitswelt, die sich dieser Entwicklung erst noch anpassen muß und die noch von den Zwängen der nicht-vernetzten Welt wie ineinandergreifende Tätigkeiten in räumlicher Nachbarschaft, formale Befehlsstrukturen oder Zentralisierung von Autorität bestimmt ist. Organisationen, die cvK installieren, können demgegenüber flexiblere und weniger hierarchische Strukturen entwickeln und der fehlende Zwang zur persönlichen Zusammenkunft regt dazu an, verschiedene Formen von Gruppenorganisation zu erproben. Darüber hinaus verändert die cvK die Form der Informationsbeteiligung in großen Organisationen. Informelle Kommunikation fällt dort als Ressource weg. Formalen Systemen obliegen die Dokumentation und Verantwortlichkeit für die Informationsverteilung. Im Hinblick auf das Antwortverhalten auf Anfragen und der Bereitschaft von Mitarbeitern, in großen Organisationen auf Anfragen aus dem Außenbereich zu antworten sowie der Bereitschaft, Informationen öffentlich zu machen, konstatieren sie einen „nach Bedarf spontan praktiziertem Altruismus – ganz im Gegensatz zu den Befürchtungen, Netze würden das soziale Gewebe großer Organisationen schwächen“ (S.58).

5. Wandel der Firmenhierarchie
Sproull/Kiesler sehen die Möglichkeit, daß diese neuen Kommunikationsformen die Struktur von Organisationen sowie die Managementformen „grundlegend ändern könnten“. Die AutorInnen vermuten, daß sich die Verringerung von räumlichen und sozialen Kommunikationsbarrieren auf „randständige Beschäftigte“ starker auswirken wird, als auf solche mit zentraler Stellung. Eine ausgiebige Nutzung von E-Mail impliziert für sie auch mehr Engagement für den Beruf und die Kollegen. Dabei vermuten sie, daß in vernetzten Organisationen zwar Hierarchien nicht völlig bedeutungslos, „wohl aber durch mehrschichtige Gitter von Querverbindungen ergänzt werden“ (S. 59).

6. Die Rolle des Managements
CvK ergibt neue Managementprobleme, es bedarf anderer Arbeitsanreize und bisher nicht erprobter Organisationsstrukturen. Sproull/Kiesler konstatieren höchst unterschiedliche Reaktionen der Manager auf den Wandel ihrer Autorität und Kontrollgewalt. Mit der Ermutigung zur Partizipation werden zudem ganz eigene Managementprobleme hervorgerufen. Sie sehen es als Aufgabe des Managements an, die durch den Zuwachs an Nutzergruppen bedingten Verbindungen in der Arbeitswelt zu organisieren und zu formen.

23.01.2001; KS