Gogolin, Ingid / Lenzen, Dieter (Hrsg.): Medien-Generation – Beiträge zum 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft

Gogolin, Ingid / Lenzen, Dieter (Hrsg.): Medien-Generation – Beiträge zum 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Leske + Budrich Verlag Opladen 1999. 431 Seiten.

Themen: Bild, Bildung, Bildungsserver, Computer, Fernsehen, Mediengeneration.

Abstract
In 25 Beiträgen sind die Gedanken führender Erziehungswissenschaftler zur Bedeutung der neuen Medien versammelt.

Inhaltsverzeichnis
(1) Eröffnungsrede (Lenzen)
(2) Jugend im Medienzeitalter (v. Hentig)
(3) Laudatio für Hartmut von Hentig (Liebau)
(4) Zum Verhältnis von Bildung und Medien (Pleitgen)
(5) Lernen mit den neuen Medien (Aufenanger)
(6) Multimediale und telekommunikative Lernumgebungen (Euler)
(7) Medien — Generation — Familie (Hurrelmann)
(8) Children’s Media Culture and the End of Schooling (Kress)
(9) Die neue Mediengeneration im New Age of Visual Thinking (Baake)
(10) Irritationen — zur Pädagogik der Talkshow (Kade)
(11) Strukturwandel der Bildung in der Informationsgesellschaft (Lohmann)
(12) Gute Medien, schlechte Medien? (Wittpoth)
(13) Der Aufbau grundlegender Medienkompetenzen (Spanhel)
(14) Internet. Möglichkeiten und Grenzen (Diepold)
(15) Aufbruch und Eroberung (Kehlenbeck)
(16) Wie ist Bildung durch Medien möglich (MacCabe)
(17) Entwicklung medienpädagogischer Konzepte in der Schule (Tulodziecki)
(18) Vater-Sohn-Bindungen und Interaktionen in Spielfilmen (Ehrenspeck)
(19) Digitale Subjektivität (Marotzki)
(20) Sozialpädagogik und Öffentlichkeit (Hamburger/Otto)
(21) Bild — Phantasie — Täuschung (Wulf/Schäfer)
(22) Wissensaneignung und Mediennutzung (Faulstich/Schiersmann)
(23) Zur Bedeutung von Medien in Sport- und Freizeitkultur (Wolters)
(24) Schöne neue Lernwelt? (Schönweiss)
(25) Einsatz interaktiver Medien (Sembill/Wolf)

Bewertung

Ein reichhaltiger Querschnitt durch das pädagogische Denken in Medienangelegenheiten.

Inhalt

(1) Eröffnungsrede
In der Eröffnungsrede des Kongresses erinnert Dieter LENZEN daran, dass Pädagogen im 18. Jahrhundert das Aufkommen des Massenmediums Buch als Bedrohung empfanden; gegen Ende des Jahrhunderts habe kein geringerer als Friedrich Schlegel empfohlen, Lesen und Schreiben einer exklusiven Schicht in der Gesellschaft vorzubehalten.
Das generelle Thema der Medien für die Erziehungswissenschaft, so Lenzen weiter, ist, was wir mit den Medien machen und was die Medien mit uns machen.
Zu einem integrativen Konzept der Medienerziehung gehöre auch ein Konzept der Medienkompetenz; wichtige Bestandteile davon seien
— Navigieren lernen, was beinhaltet: fragen lernen, suchen, selektieren, verarbeiten, Handlungskonsequenzen ziehen;
— Interpretieren lernen, oder mit Bedeutungen und Kontexten umgehen. (S. 11 – 16)

(2) Jugend im Medienzeitalter
In seinen Reflexionen über die Jugend im Medienzeitalter bekennt Hertmut v. HENTIG zunächst seine Schwierigkeit, angesichts des gewaltigen Materials zu dem erziehungs-wissenschaftlichen Kongress überhaupt den Stand der Diskussion zu finden; zu diesem Zweck habe er eine Auswahl getroffen und sich bei einem Jugend- und Medienforscher, bei einem Computer-Didaktiker, einem Jugend-Politiker und bei einem Gesellschaftstheoretiker kundig gemacht. Beim Letzteren (Luhmann) sei ihm die bemerkenswerte Ansicht ins Auge gefallen, dass Techniken und so auch die Kommunikationstechniken nie eine bloße Hinzufügung zum Vorhandenen sind, sondern stets auch dessen Veränderung.
Kritisch steht v. Hentig der (Kongressbezeichnung) „Mediengeneration“ als Kennzeichnung der gegenwärtigen Zeit gegenüber; zumindest zwanzig andere Kennzeichnungen — z.B. „Wandel des Erwerbssystems“ oder „Demokratiekrise“ — könnten für diese Zeit gleichermaßen gelten. Dass gerade die Medien so sehr im Vordergrund stehen, liegt für v. Hentig in zwei Umständen: a) dass die neuen Medien die Verkünder ihres eigenen Siegeszugs sind und b) dass ihre Durchsetzung in der Gesellschaft dramatisch schnell vor sich geht. Als Folge davon hätten sich bestimmte Symptome gebildet: das Symptom Schein, das sich u.a. darin zeige, dass „die Erosion der Bürgerverantwortung durch die telematische Scheinwelt voll im Gang (ist)“ (S. 34), und das Symptom Schrott, dadurch gekennzeichnet, dass speziell durch die Unter-haltungsindustrie den Kindern (und Eltern) ein Haufen unbrauchbare Dinge aufgedrängt würden.
Doch sieht v. Hentig die Entwicklung keineswegs nur pessimistisch. Die sogenannte Mediengeneration habe ihre eigene Realität und deutliche Kriterien für ihr Verhalten: „Ihren Ort und ihre Mitwirkung in dieser (Gesellschaft) suchen sie danach aus, ob sie mitbestimmen, ihre Fähigkeiten einsetzen und jederzeit aussteigen können …“ (S. 38). Das Problem sei, dass diese Generation ihre Maßstäbe offenbar nicht ‚unseren Systemen‘ (Beruf erlernen, Karriere machen etc.) entnimmt. Für die Pädagogen stelle sich als Hauptaufgabe, „zu behandeln, was im Leben vorkommt, und lehren, was in ihm vorkommen sollte“ (S. 39), nämlich das zum Lebenserhalt und seiner Würde Notwendige.

(3) Laudatio
In seiner Laudatio für H. v. Hentig (wegen des ihm zuerkannten Ernst Christian Trapp-Preises) bemerkt Eckart LIEBAU, v. Hentig sei — der Trefferquote durch eine Suchmaschine zufolge — der im Internet weitaus am häufigsten vorkommende deutsche Pädagoge. Ein Grundthema seines Lebenswerks sei die Selbstbestimmung des Einzelnen durch Mit-bestimmung in der Gemeinschaft. Darüber hinaus habe er maßgeblichen Anteil im ‚Schule neu denken‘. Immer wieder habe er komplexe Zusammenhänge in eine orientierende Begrifflichkeit gebracht, beispielsweise
* Die Menschen stärken, die Sachen klären,
* Erkennen durch Handeln. (S. 43 – 50)

(4) Bildung und Medien
Zum Verhältnis von Bildung und Medien sprechend fragt Fritz PLEITGEN eingangs, ob der Themen-Katalog (!) des Kongresses nicht schon ein Teil des zu besprechenden Problems ist.
Die Wandlungen im Fernsehen beschreibt Pleitgen als „Entgrenzungen“; so seien die Grenzen zwischen Informations-, Kultur- und Bildungssendungen nicht mehr eindeutig zu ziehen. Auch naturwissenschaftliche Sendungen hätten sich geändert, indem sie ‚mediengerecht‘ geworden seien und nicht nur den Fachmann, sondern auch den interessierten Laien ansprechen würden. Was das Verhältnis zur Bildung angeht, betont Pleitgen,
— dass Medienkompetenz nicht mit Lebenskompetenz zu verwechseln sei
— dass die Medien jedem die Chance auf soziale Teilhabe bieten müssen
— dass deser Auftrag gegenwärtig in den Hintergrund gerückt sei
— dass die soziale Funktion medialer Kompetenz wieder hervortreten muss.
Abschließend hebt Pleitgen hervor, dass Orientierungspunkte besonders wichtig seien, von denen aus der gegenwärtige Wandel erlebt werden kann; eine solche Orientierung, die ihn besonders beeindruckt hat, sei v. Hentigs: die Sachen klären, den Menschen stärken. (S. 51 – 58)

(5) Lernen mit den neuen Medien
Zum Thema „Lernen mit den neuen Medien“ fragt Stefan AUFENANGER nach den Chancen, welche die neuen Medien bieten. Man könne sie als Werkzeug ansehen, mit deren Hilfe traditionelle Aufgaben in routinierter Form erfüllt werden (Textverarbeitung und Textbearbeitung). Weiter könnten sie als Tutor zum Lernen dienen, wobei einer der Gegenstände des Lernens der Computer selbst ist (Aspekt der Medienkompetenz). Ferner würden sie ein Mittel der Kommunikation darstellen. Schließlich bestünde eine Chance auch im Einsatz dieser Medien zur Simulation der Wirklichkeit.
Mit dem Gebrauch der neuen Medien, sagt Aufenanger, gehen bestimmte lernpsychologische Annahmen einher. Ein wichtiger neuer Ansatz sei dabei der konstruktivistische, in dem Lernen als ein aktiver Prozess verstanden wird, bei dem Wissen (analog zum Piaget‘ schen Erkenntnisaufbau bei Kindern) „konstruiert“ wird. Neu ist nach Aufenanger auch der sogenannte rezipientenorientierte Ansatz, in dem das Handeln des Subjekts im Umgang mit den Medien betont wird.
Aufenanger plädiert für eine Zukunft des medialen Lernens, in der einerseits die Medien als eine Form des Lernens gebraucht werden (z.B. E-Mail-Projekte oder Lernen mit Lernsoftware, wobei der Lehrende zum Moderator oder Coach wird), andererseits die Medien — im Sinne der Klafki’schen Allgemeinbildung— als Exempel genommen werden, an denen Bildungsprozesse zu Fragen der Ethik etc. initiiert werden. (S. 61 – 76)

(6) Lernumgebungen
Aus wirtschaftspädagogischer Sicht thematisiert Dieter EULER multimediale und tele-kommunikative Lernumgebungen. Vier Ausrichtungen würden relevant werden:
1. Methoden- und Sozialkompetenz unter dem Vorzeichen des selbstorganisierten Handelns
2. Der Lehrende wird zum Organisator der Lernumgebung und Unterstützer des Lernprozesses
3. Wichtig werden die individuellen Lernvoraussetzungen der Lernenden
4. Bedeutsam wird die Integration von Lernen und Arbeiten
Was die Formen des Lernens mit Lehr- und Informationssoftware angeht, unterscheidet Euler grundsätzlich das mediengestützte Einzellernen (analog Buchlesen) vom medialen Lernen im sozialen Kontext. Das Lernen kann als Teletutoring stattfinden, wobei die Telekommunikation synchron oder asynchron sein kann; es kann auch als Teleteaching organisiert sein, wobei hier die Steuerung durch den Lehrenden im Vordergrund steht. Telekooperation bzw. der Teledialog stellt eine weitere Form dar, wobei hier an gemeinsamen Projekten gearbeitet werden oder Austausch zu einem gemeinsamen Thema stattfinden kann. Teleangebote schließlich umfassen die Bereitstellung von Informationen durch Lehrende und Lernende für einen größeren Interes-sentenkreis.
Lernen, betont Euler abschließend, kommt nicht durch die Anhäufung von Wissen zustande, sondern erst durch dessen Aneignung; und diese sei an keine Technik übertragbar. Denn der Mensch komme — jedenfalls in der Pädagogik — nicht ohne sich aus. (S. 77 – 97)

(7) Medien – Generation – Familie
In „Medien — Generationen — Famililie“ — fragt Bettina HURRELMANN provokativ, ob es in der angesagten ‚Wissensgesellschaft‘ einen neuen Menschen geben wird. Grob gesprochen liege die Antwort irgendwo zwischen den Extrem-Konzepten der Medientheorie, die einerseits die Ohnmacht, andererseits die Allmacht der Medien unterstellen. Um zu differenzierterer Antworten zu kommen, stellt Hurrelmann einen Vergleich der Lebenswelten an, in denen die Medien Kinderbuch, Fernsehen und Computer vorrangige Bedeutung haben. Das Kinderbuch ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts groß geworden, als neue Lernumgebung von Kindern, damals gewertet als Chance für schnellereres und leichteres Lernen der Kinder. Die typische Familie für dieses Medium war nach Hurrelmann eine, die über einen gebildeten (vorlesenden) Vater verfügte und deren Mittelpunkt die Mutter war; das neue Medium habe im 19. Jahrhundert mehr und mehr dazu gedient, sich sozial nach unten hin abzugrenzen.
Das Fernsehen, als Massenprodukt im letzten Drittel des 20 Jahrhunderts groß geworden, hat nach Hurrelmann den Kommunikationsraum der Familien nach ‚draußen‘ geöffnet und damit den Abbau sozialkulturell bedingter Kommunikationsstrukturen ermöglicht; zugleich sei dieser Raum aber auch nach ‚innen‘ geöffnet worden, indem vor allem „geschmückte Frauen“ — etwa eine Dagmar Berghoff — gleichsam im Wohnzimmer Einzug hielt. Als Lernumgebung für Kinder ist Fernsehen (nach Salomon 1984) ein ‚leichtes‘ Medium, d.h. es gewährt Be-schäftigung mit geringen Ansprüchen an mentalem Aufwand. Im Vergleich zu den bisherigen Kommunikationsräumen werde durch TV, wodurch sozialer und physischer Ort der Erfahrung auseinanderfallen, jedem prinzipiell alles zugänglich, wodurch Wissenshierarchien und pädagogische Tabus unterlaufen werden. Die Folge davon ist (nach Meyrowitz) eine Nivel-lierung der Eltern- und Kinderollen in Bezug auf die wahrgenommene Welt.
Mit dem (vernetzten) Computer), so Hurrelmann, gewinnt erstmalig die junge Generation einen Vorsprung an Medienkompetenz, und sie fragt, was dies bedeutet. Zunächst einmal, dass mit diesem „Hybridmedium“ — Ton, Bild, Schrift werden vereint — ein praktisch unbegrenzter Kommunikationsraum aufgespannt wird, wo jeder jeden erreichen kann. In dem Maße, wie es der junge Generation leichter fällt, unbekannte Kommunikationswelten zu erschließen, werde die Kommunikation zwischen den Generationen innerhalb der Familien zum ernsthaften Problem. Dieses Problem wird sich nach Hurrelmann (im Anschluss an Höflich) allerdings relativieren, weil sich auch für den Computer als Universalmedium — wie für jedes Medium — ein Anwendungshorizont herausstrukturieren wird, der besagt, wie wer für welchen Zweck dieses Medium sinnvollerweise anwendet; der Elterngeneration werde dadurch nicht nur der Anschluss an die Entwicklung erleichtert, es werde dadurch auch der Computer — wie Kinder-buch und TV vorher und immernoch — im Familienleben einen eingegrenzten Platz be-kommen. (S. 99 – 124)

(8) Medienkultur bei den Kindern
In „Children’s Media Culture, and the end of Schooling?“ erörtert Gunther KRESS Auswirkungen der neuen Medienkultur auf das Erziehungswesen (speziell in anglophonen Ländern).
Eine Tendenz, führt er aufgrund eines Vergleichs von educational TV 1977 und 1997 aus, besteht darin, dass es damals angelegt war als ‚radio in TV‘, d.h. der Haupt-Kommunizierende war eine Autorität, die gesprochen hat; 20 Jahre später standen demgegenüber die Modi „action and image“ im Vordergrund, und die Agierenden waren vorzugsweise Kinder, die Spaß hatten.
Eine weitere Tendenz sieht Kress darin, dass durch die Aussicht Informationen überall erhalten zu können, die Grenzen von Schule sich auflösen werden; und zwar nicht nur die Grenzen der schulischen Tages-, Wochen-, Jahresstrukturen, sondern auch Schule als physischer Ort. (S. 125 – 136)

(9) Visuelles Denken
„Die neue Medien-Generation im New Age of Visual Thinking“ überschreibt Dieter BAAKE seinen Beitrag, der im Original mit Video-Beispielen unterlegt ist. Rein quantiativ betrachtet, zeigt Baake, nimmt der Erlebnisraum der medialen ‚Kinderzimmerkultur‘ (mit zumindest eigenem TV und Computer) bei Jugendlichen mit etwa 6 Stunden täglichem Kontakt zu solchen Medien einen beträchtlichen Platz ein; andererseits zeigten die Untersuchungen aber auch, dass für die gleiche Jugend Sport und/oder Zusammensein in der Peergroup gleichfalls hohe Bedeutung hat.
An den vor sich gehenden Veränderungen ist für Baake am bemerkenswertesten, dass die Medien selbst umfassende Inszenierungen darstellen. Dies bedeute nicht, dass die Jugendlichen Realität und Virtualität nicht unterscheiden könnten — die Unterscheidung sei ihnen heute durchaus wichtig —, es bedeute aber, dass sie zunehmend Erfahrungen machten mit Welten, in denen Inszeniertes und alltägliche Realität gezielt miteinander verschränkt sind. Beispiele dazu:
— Videoclips, in denen Hör-Rhythmus und Seh-Rhythmus entfremdet sind;
— Selbstinszenierungen von Jugendlichen in bisher dafür nicht vorgesehenen Situationen;
— der Einbau von Werbesprüchen etc. in den eigenen Sprachgestus, womit ironisierende Distanz erreicht wird.
Zusammenfassend bezeichnet Baake solche ‚Einbauten‘ als Bricolage-Technik (wörtl. Bastelei), deren Prinzip Neuanordnungen seien mit dem Ziel, Bedeutungssysteme neu zu ordnen bzw. absichtlich zu verwirren.
Insgesamt sieht Baake die ‚Mediengeneration‘ auf ein „neues Zeitalter visuellen Denkens“ zugehen, in dem analoge Wahrnehmungen große Bedeutung haben. Als Beispiel hierfür nimmt er ein Video mit (dem Rockstar) Madonna, in dem zwischen zwei Szenerien gewechselt wird: dem Kampf eines Matadors mit einem Stier und dem Liebesakt dieses Matadors mit Madonna.

(10) Irritationen
Jochen KADE analysiert Talkshows als (sozial-) pädagogische Veranstaltungen, die typischerweise mit dem Mittel der Irritation arbeiten, einer für ihn elementaren „Ressource von Bildungsprozessen. An den Beispielen einer Kerner’schen Talkshow und einer ‚Anti-Talkshow‘ von Schlingensief zeigt er, wie diese Ressource einsetzbar ist: Bei Kerner etwa, indem ein Mörder in der Talkshow auftritt, zu dem nun Beziehung aufgenommen werden soll; diese vermittelt der Moderator durch inhaltliche und formale Interventionen, und durch Zusammenhangsbildung, die eine zeitliche Dimension hat (darf man einen Menschen nur an den Taten der Vergangenheit messen?) ebenso wie eine soziale Dimension (könnten wir auch in eine Situation kommen, die zum Mord führt?). Während es bei Kerner darum gehe, eine gegebene Irritation aufzuheben, gehe es bei Schlingensief umgekehrt darum, aus gewohnten Kommunikationsstrukturen heraus Irritationen zu erzeugen. Zum Beispiel richtete er in einer ‚Talkshow‘ zum Thema Original und Fälschung an Ingrid Steeger die Frage, ob sie diese wirklich sei oder nicht doch eine Doppelgängerin, worauf die so Gefragte — von Schlingensief zweifellos intendiert — ihre ganze Fassung verlor.
Für Pädagogen als Moderierende, so Kade abschließend, sei aus Talkshows unter dem Gesichtspunkt des bewussten Einsatzes von Irritationen einiges zu lernen. (S. 151 – 181)

(11) Strukturwandel der Bildung
Den Strukturwandel der Bildung in der Informationsgesellschaft — sie selbst bevorzugt den Begriff der Wissensgesellschaft — behandelt Ingrid LOHMANN durch die Darlegung zweier (optionaler) Modelle, deren tatsächliches Mischverhältnis vom politischen Gestaltungs-willen und nicht zuletzt von Machtverhältnissen abhängen werde. Das diesen Modellen gemeinsame Problem ist nach Lohmann die Auseinanderstzung um den Zugang zum Wissen.
1. Das erste Modell ist von den Interessen der Privatwirtschaft her gestrickt. Lohmann exemplifiziert es an der Struktur der University of Phoenix/Arizona. Diese ist in erster Linie für gutbezahlte Mitarbeiter von Firmen als Weiterbildungsinstitution vorgesehen; die Lehrenden sind freiberuflich tätig. Sie arbeite nach dem Prinzip der Entgeltlichkeit der Informationen, indem für Informationsprodukte und Dienstleistungen kostendeckende Preise erreicht werden sollen.
2. Das zweite Modell ist demgegenüber von den Bedürfnissen der Wissenschaft her ak-zentuiert. In ihm regiert das Prinzip der Unentgeltlichkeit der Informationen. Beispiel hierfür ist der Preprint-Server, den der Physiker Paul Ginsparg in Los Alamos eingerichtet hat, wodurch eine große Wissenschaftsgemeinde mit aktuellen Informationen in Form von Abstracts versorgt wird — über einen absuchbaren Internet-Server und per E-Mail-Verschickung als einem ungleich schnelleren Verbreitungsweg denn per gedruckter Zeitschriften. Tausende von Physikern nehmen aktiv und passiv an diesem Service teil.
Das Anliegen der Autorin wird kommt in dieser Aussage zum Ausdruck: „Im Internet figuriert Comenius als Schutzpatron jenes alteuropäischen Projekts, das darauf zielt, alles Wissen allen zugänglich zu machen. Die Neufassung dieses Projekts steht derzeit zur Disposition.“ (S. 183 – 208, Zitat S. 203)

(12) Gute – schlechte Medien?
Als Ersachsenenbildner reflektiert Jürgen WITTPOTH über ‚gute‘ und ’schlechte‘ Medien, eine Frage, die seit jeher wesentlich in Abhängigkeit von der Stellung im ‚Oben‘ und ‚Unten‘ der Gesellschaft beantwortet worden sei.
Besonders interessiert ist Wittpoth am Einfluss der Generationenfolge auf den Umgang mit Medien (im weitesten Sinn als das Vermittelnde zwischen uns und dem ‚Eigentlichen‘). Als eine bedeutende Grenzlinie sieht er eine etwa um die Mitte der 50er Jahre verlaufende, wobei die referierten empirischen Informationen sich auf Angehörige gehobener Schichten beziehen. Den davor Geborenen seien die moderne Haushaltstechnik und die elektronischen Medien als etwas relativ Fremdes in ihr Leben getreten, und eine eher reservierte und ängstliche Haltung ihnen gegenüber sei die Folge; außerdem seien sie mit ihrer (bürgerlichen) Kultur relativ eng verbunden geblieben. Demgegenüber seien die danach Geborenen mehr oder weniger selbstverständlich in den Umgang mit den genannten Techniken hineingewachsen; ‚gut‘ und ’schlecht‘ würde bei ihnen nicht nach tradierten kulturellen Werten entschieden, sondern danach, was für die individuelle Entwicklung nützlich ist.
Entscheidend für die Bedeutung von Medien ist für Wittpoth ihr „sozialer Gebrauch“, d.h. der Sinngehalt, den sie in einer bestimmten ‚Welt‘ — z.B. von Opernanhängern, Surfern etc. — haben; dementsprechend avisiert er als Forschungsperspektive, solche ‚Welten‘ in Bezug auf den Bedeutungsgehalt der modernen Medien zu untersuchen. (S. 209 -222)

BEITRÄGE AUS SYMPOSIEN

(13) Grundlegende Medienkompetenzen
Ein Beitrag von Dieter SPANHEL bringt Voraussetzungen für Medienkompetenzen im frühen Kindesalter ins Bickfeld. Drei Ebenen werden angesprochen:
(1) Der Erwerb basaler Kommunikationsfähigkeit des Säuglings mit der Mutter etc. (face to face);
(2) Der Erwerb sprachlicher Fähigkeit (Voraussetzung: Differenzierung zwischen einem Objekt und einem Zeichen als dessen Stellvertreter);
(3) Der Erwerb spezifischer Fähigkeiten im Zusammenhang der elektronischen Medien.
Für diese Ebene hebt Spanhel die großen Veränderungen der Signale (als materiellen Trägern der Zeichen) hervor, wie sie im „Superzeichenrepertoire“ von Film, Fernsehen, Video, Computer-Spielen zum Ausdruck kommen. Ein Problem sei hier, dass Kinder den übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen der betreffenden Botschaften nicht rekonstruieren und daher nur solche Bruchstücke aufnehmen können, die in ihrem eigenen Erfahrungshorizont stehen. Durch Spielen des Mediengebrauchs in unterschiedlichen sozialen Kontexten innerhalb der Familie werde ein wichtiger Bestandteil von Medienkompetenz erworben, nämlich einen sinnstiftenden Rahmen sich selbst zu organisieren. (S. 225 – 243)

(14) Internet
Möglichkeiten und Grenzen des Internet beschreibt Peter DIEBOLD. Er verweist auf amerikanische Erfahrungen mit dem Internet in Schulen (worüber im Symposium Cornelia Brunner berichtete). Zwei grundsätzliche Sichtweisen seien unterscheidbar: die männliche, die von den Ressourcen (Bibliotheken) des Internet fasziniert ist; die weibliche, die das Internet als Hilfsmittel für Gespräch und Kooperation nutzt. Die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten im Einzelnen könnten über die Matrix „Internet Uses“ eruiert werden (abrufbar unter www.edc.org/CCT/cb/Media.stk.html).
In Deutschland werde die Notwendigkeit erkannt, die neuen Ressourcen fachspezifisch zu strukturieren, zu gewichten, zu bewerten und einem definierten Benutzerkreis zugänglich zu machen. Dieser Aufgabe würden sich zunehmend Bildungsserver widmen, für die ein orientierender Meta-Server — hier ist wichtig der im Aufbau begriffene „Deutsche Bildungs-Server“ — und einzelne Teil-Server wie zum Beispiel „Tele-Learning“ charakteristisch sind; Adressaten sind Lehrer, Schüler, Eltern, Studenten, Wissenschaftler, Bildungsadministratoren und eine allgemein an Bildung interessierte Öffentlichkeit (nähere Informationen unter www.educat.hu-berlin.de/publikation/chaos.html).
Berichtet wird auch von Hemmnissen im Gebrauch des neuen interaktiven Mediums, speziell an den Universitäten; dort würden „patriarchalisch-zunftförmige Strukturen“ Transparenz, Selbstorganisation und den freien Fluss von Informationen vielfach verhindern. Überhaupt müssten informationstechnologische Innovationen von sozialen Innovationen begleitet werden. (S. 245 – 260)

(15) Aufbruch und Eroberung
Unter dem Thema „Aufbruch und Eroberung“ fragt Corinna KEHLENBECK, ob der männliche Abenteuerheld, dessen Leistung in der bürgerlichen Ära als Beitrag zum zivilisatorischen Fortschritt gewertet worden sei (Beispiel Robinson Crusoe), als Identifikationsfigur für Jugendliche noch zeitgemäß ist. Wäre das Ideal der Autonomie, fragt sie weiter, nicht angebrachter? (S. 261 – 274)

(16) Bildung durch Medien
Colin MacCABE stellt die Frage, wie Bildung durch Medien möglich ist. Für ihn selbst als einem, der in den 60er Jahren zur Schule ging, seien Schule und Fernsehen zwei unvereinbare Welten gewesen.
Wirklich zusammenkommen könnten Bildungsinstitutionen und die neuen Medien nur, wenn letztere dafür genutzt werden, elementare Bildungsgüter zu transportieren. Ein wichtiges Feld seien dabei Lernprogramme, die (unter Anleitung) Lesen und Schreiben besser fördern können als die herkömmlichen Methoden. Ein weiteres wichtiges Feld ist nach MacCabe die Nutzung audiovisueller Hilfsmittel, um durch Aufzeichnungen von Stücken (unter Anleitung) Zugang zur klassischen Literatur zu erlangen.
Im Ganzen gesehen würden die aktuellen Medien durch ihre technischen Möglichkeiten nicht nur auf die Zukunft verweisen, sondern ebenso auf die Vergangenheit, indem diese durch die neuen Medien eingefangen werden kann. (S. 275 – 284)

(17) Medienpädagogische Konzepte
Wie medienpädagogische Konzepte in der (einer) Schule entwickelt werden können, beschreibt Gerhard TULODZIECKI. Im Rückgriff auf historische Erfahrungen wird zunächst ausgeführt, dass medienpädagogisches Denken seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von kunsterzieherischen Überlegungen ausgegangen ist. Die Leitidee war: Bewahrung vor Schädlichem („Schundliteratur“) und Pflege des Wertvollen („echte Dichterwerke“). In den 1970er Jahren sie diese Richtlinie dann durch „mündigen Umgang“ mit den Medien und „Ideologiekritik“ (im Sinne der Aufdeckung unterschwelliger Verbreitung von Herrschafts-interessen) hinzugekommen.
Wenn bis dahin das Augenmerk darauf lag, was Medien mit uns machen können, trat nach Tulodziecki seitdem die Frage, was wir mit den Medien machen können, in den Vordergrund. In diesem Sinne werden dann fünf Aufgabenbereiche der Medienpädagogik dargelegt:

(1) Medienangebote auswählen und nutzen;
gemeint ist bewusste Nutzung verschiedener Funktionen.
(2) Medien selbst gestalten und verbreiten;
mit dem Ziel, die Rezipientenrolle zu verlassen und selbst Öffentlichkeit herzustellen.
(3) Mediengestaltungen verstehen und bewerten;
z.B. das Differenzieren lernen von Bericht und Meinung, Aufklärung und Werbung.
(4) Medieneinflüsse erkennen und aufarbeiten;
etwa die Einflüsse auf Gefühle, Vorstellungen, Wertorientierungen sehen lernen.
(5) Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung zu durchschauen und beurteilen;
es geht hier um Prüfung von Form und Inhalt sowie den hinter dem Medium stehenden Interessen.

Im Weiteren beschreibt Tulodziecki — als Anregung für einzelne Schulen — einen Ko-ordinierungsrahmen der Medienpädagogik. Er empfiehlt, dass eine Schule entsprechend den Meinungen in einer medienpädagogischen Arbeitsgruppe eine Leitidee formulieren sollte, unter der sie ihr spezifisches Schulprofil entwickeln kann. (S. 285 – 303)

(18) Vater – Sohn – Bindungen
Bei Yvonne EHRENBERG geht es um Vater-Sohn-Beziehungen, wie sie in ‚post-modernen‘ Filmen dargestellt werden. Ehrenberg vermutet aufgrund ihrer Analyse, dass in den Filmen eher (in melancholischer Weise) Vergangenes zitiert wird als dass neuen Realitäten nachgespürt wird. Dies sollte als Fagestellung an die empirische Forschung zurückgespielt werden, indem untersucht wird, welche tatsächlichen Rollen — Partner, Freunde, Brüder? — in der ’neuen Vätergeneration‘ gespielt werden. Das Reale sollte dabei deutlich von Sehnsüchten oder Projektionen geschieden werden. (S. 305 – 321)

(19) Digitale Subjektivität
Unter dem Thema „Digitale Subjektivität“ verweist Winfried MAROTZKI auf zwei Formen der Nutzung des Internet: zum Einen als Werkzeug für Informations- und Lern-prozesse, zum Andern als Medium der Selbstrepräsentation; als solches werde die heran-wachsende Generation Medien ganz selbstverständlich nutzen.
Im Weiteren wird über die differentia specifica des neuen Mediums (Internet) unter verschiedenen Aspekten philosophiert:
— Im Internet habe man es aufgrund seiner dekontextualisierten Präsentationsstruktur mit der Aufgabe zu tun, Texte zu rekontextualisieren; da Informationen überreichlich vorhanden sind, Kontexte aber knapp, werde es zur vornehmsten Intelligenzleistung, Kontexte herzustellen (Beitrag von Elena Esposito).
— Wegen der Hypertextualität des Internet bzw. seiner Repräsentationsform löse sich die In-sich-Abgeschlossenheit eines Texts und die klare Autorenschaft auf; oder umgekehrt gesagt, beginne sich im Internet „eine Art aphoristisches und kollaboratives Schreiben“ als Kultur-technik zu etablieren (Beitrag Mike Sandbothe).
— Im Internet sei die Interaktivität eine andere als im persönlichen Umgang, weil das im persönlichen Umgang miteinander verkoppelte ‚Sagen‘ und ‚Tun‘ entkoppelt würde (Beitrag Sybille Krämer).
Einigkeit herrschte unter den Diskutanden darin, dass das Lernen — wie auch die Renaissance des amerikanischen Pädagogen John Dewey zeigt — projekt- und problemorientiert angelegt und in diesem Sinne pragmatisch ausgerichtet sein wird (S. 323 -329)

(20) Sozialpädagogik
„Sozialpädagogik und Öffentlichkeit“ ist der Beitrag von Franz HAMBURGER und Hans-Uwe OTTO überschrieben. Auf der Suche nach einem anerkannten Platz der Sozialarbeit im öffentlichen Raum wird (nach Neidhardt 1994) eine normative Theorie der Öffentlichkeit dargestellt. Danach hat die gewollte Öffentlichkeit
— eine Transparenzfunktion;
Offenheit für Gruppen, Themen, Meinungen ist angesprochen.
— eine Validierungsfunktion;
die diskursive Bearbeitung von Themen und Meinungen muss gewährleistet sein.
— eine Orientierungsfunktion;
Kommunikation soll zur Herausbildung von Meinungen führen.
Für Soziale Arbeit bedeutsam sei, dass sich mit der Herausbildung der Informationsgesellschaft das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit ändert: Mit Hilfe der Informationstechnologien würden eher private Problemlagen als sozialpädagogisch relevante veröffentlicht, sie andererseits dem (gewohnten) öffentlichen Raum entzogen. Über die Konsequenzen müsse auch von Seiten der Sozialpädagogik nachgedacht werden. (S. 331 – 343)

(21) Bild – Phantasie – Täuschung
Von Christoph WULF und Gerd SCHÄFER wird unter dem Titel „Bild — Phantasie — Täuschung“ ein Bildungsbegriff entworfen, der von ‚Bild‘ abgeleitet ist. Was ein Bild ist, zu dieser Frage wird zunächst auf den Sinn sakraler Bilder (in der Antike) zurückgegriffen, der als magische Präsenz interpretiert wird, dann auf Platons Bildbegriff als einer Repräsentation und schließlich die „neue Art von Bild“ behandelt, dem eine technische Simulation zugrunde liegt. Phantasie fassen die Autoren als die Fähigkeit, Bilder gleichsam von außen nach innen zu nehmen, was in den sinngleichen Begriffen ‚Imagination‘ bzw. ‚Einbildungskraft‘ gleichfalls zum Ausdruck kommt. Täuschung liegt für Wulf/Schäfer vor, wenn (in Bildern fassbare) sinnlich-emotionale Erfahrung auf inadequate Weise in Denken verwandelt wird.
Bildung wird von den Autoren als ein Prozess bestimmt, „in dem die eigene Erfahrung durch selbst gefundene Bilder aufbereitet, wahrnehmbar und denkbar gemacht wird.“ (S. 345 – 362, Zitat S. 360)

(22) Wissensaneignung
Zur Wissensaneignung durch Mediennutzung in der Erwachsenenbildung machen Peter FAULSTICH und Christiane SCHIERSMANN offene Fragen deutlich:
— Betreff Mediennutzung. Welche Strategien des Lernens können Individuen befähigen, mit den Fragmentierungen des Wissens durch die Informationsexplosion umzugehen?
— Betreff Medienwirkung. Welche Aneignungsformen der neuen Medien finden in den verschiedenen Generationen statt?
— Betreff Medienkompetenz. Welche Themen, Intentionen, Methoden eignen sich für den Er-werb einer sinnvollen Medienkompetenz?
— Betreff Identitätsbildung. Was bedeuten die spielerischen Möglichkeiten virtueller Identi-fizierungen für die Persönlichkeitsentwicklung?
— Betreff Eigenständigkeit. Welche Formen des Medieneinsatzes fördern oder behindern Selbsttätigkeit im Lernen? (S. 363 – 369)

(23) Medien in Sport und Freizeit
Zur Bedeutung von Medien in Sport- und Freizeitkultur, unter diesem Titel fasst Petra WOLTERS ein Symposium zusammen. Als Grundpositionen hätten sich dargestellt die von Opaschowski, der Sport und Freizeit als notwendigen Ausgleich zur Beschäftigung (der Jugendlichen) mit den Medien ansieht und als Leitbild den autarken User fordert, der gewisser-maßen An- und Abschalten beherrscht.
Eine andere Position habe Jürgen Schwier bezogen, dessen Leitbild als der souveräne Navigator zu beschreiben ist; er äußert sich, wie Schwier herausgearbeitet hat, in den (von Turkle 1998 diskutierten) ‚parallelen Identitäten‘, die beim Bewegen im Internet angenommen und miteinander verknüpft werden können. Analog, so die Schwier‘ sche These, kann körperliche Bewegung in der gegenwärtigen Jugendgeneration betrachtet werden, die den Körper zugleich als Aktions- und Präsentationsmedium verstehe und auch hier ‚parallele Identitäten‘ ausbilden und verknüpfen kann. (S. 371 – 386)

(24) Schöne neue Lernwelt?
„Aktuelle Perspektiven für eine sinnvolle Modernisierung des Bildungswesens“ gibt Friedrich SCHÖNWEISS. Seine Diagnose: Auf der einen Seite wird zunehmend über elementare Defizite bei Schulabgängern geklagt; auf der anderen Seite erhofft man sich durch die ‚computerisierte Global Society‘ einen Ausweg aus der Bildungsmisere. Für Schönweiss kommt es auf die richtige Verbindung der Klage und der Hoffnung an, und dies heißt für ihn, zu klären, welche Rolle genau die neuen Medien bei der fälligen Reform spielen sollen. Als Zwecke, bei denen der Computereinsatz hilfreich sein kann, werden geannt:
* Den Kindern wieder zur Freude am Lernen zu verhelfen
* Dem Lehrer ermöglichen, dem einzelnen Kind gerecht zu werden
* Die Eltern von der Aufgabe als ‚Nachhilfelehrer der Nation‘ zu entlasten und Freiräume zu schaffen, in denen Eltern und Kinder (auch per Internet) sich mit interessanten Themen beschäftigen können.
Als praktische schulrelevante Potentiale des Internet werden u.a. genannt der Austausch mit anderen Schulen und auch Forschungseinrichtungen; Beschaffung von Materialien; Etablierung virtueller Diskussions- und Arbeitsgruppen.
Programmatisch formuliert Schönweiss, „… sich mit Hilfe der Elektronik darum zu bemühen, Stück für Stück jene Momente von Bildung einzufangen, für die sich im normalen Unterricht fatalerweise kein Raum findet …: Öffnung der Schule, fächerübergreifendes Lernen, Forschen und Studieren, Integration von vor- und außerschulischen Interessen, Berücksichtigung individueller Lernbedürfnisse …“ (S. 387 – 401, Zitat S. 392)

(25) Interaktive Medien
Eine Systematik zum „Einsatz Interaktiver Medien in komplexen Lehr-Lern-Arrangements“ bieten Detlef SEMBILL und Karsten WOLF. Einleitend stellen sie ihren weiten Medienbegriff vor, indem sie behaupten, dass jegliche Kommunikation zwischen Personen durch Medien vermittelt sind (Auge, Ohr, Sprache, Computer etc.), um sich dann auf den pädagogischen Kontext und hier auf Computer-vermitteltes Lehren/Lernen zu konzentrieren. Die Besonderheit des Computers als Medium bestehe darin, dass er interaktiv ist, d.h. seine Aktionsfolgen — gleich denen eines Lehrer — auf das Handeln des Lernenden abgestimmt sind. Sechs Gattungen interaktiver Medien mit unterschiedlichen Funktionalitäten können nach Sembill/Wolf unterschieden werden:
(1) Übungsprogramme — gekennzeichnet durch lineare Sequenzen von Übungsaufgaben mit dem Nachteil von eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten des Lernenden;
(2) Tutorielle Programme — die Wissen anbieten, Fragen stellen und je nach Antworten weiteres Wissen anbieten, Nachteil: keine Verantwortlichkeit beim Lernenden;
(3) Simulationen — definiert als zielgerichtete Arbeit mit dem Modell eines Systems, allerdings mit stark eingeschränktem Handlungspielraum und wenig flexiblen Handlungsmöglichkeiten;
(4) Hypermedia — d.h. ein System zur Darstellung vernetzter (Text-, Bild-, Ton-, Film-) Informationen, ein konstruktivistisches Medium, das jedoch wenig dem Aufbau von Handlungskompetenz dient;
(5) Anwendungsprogramme — als Produkte von Programmierumgebungen bei vorgegebener Funktion, mit dem Nachteil hoher Einarbeitungszeit und dem Vorteil tiefer (exakt entwickelter) Lernerfahrung;
(6) Kommunikations- und Kollaborationswerkzeuge — wie z.B. E-Mail bzw. Mailinglisten, Internet Relay Chat (live-Unterhaltung in Textform), Multi User Dungeons (Online-Mehrbenutzer-Rollenspiele), Collaboration Applications (simultane Bearbeitung desselben Dokuments), die moderne Lernkriterien in hohem Maße erfüllen.
Die wesentlichen Dimensionen des Lernens, auf die hin die Leistungen medialer Lehr-Lern-Arrangements betrachtet werden können, sind nach Sembill/Wolf das Lernen für sich, das Lernen mit anderen, das Lernen für andere und das (forschende und/oder selbstorganisierte) Lernen mit Risiko. (S. 403 – 427)

02.10.2001; MF