Brandt, Cornelia / Winkler, Gabriele: Telearbeit – Entmystifizierung eines Modebegriffs

Brandt, Cornelia / Winkler, Gabriele: Telearbeit – Entmystifizierung eines Modebegriffs, in: Winker, Gabriele / Oechtering, Veronika (Hg.): Computernetze – Frauenplätze. Frauen in der Informationsgesellschaft. Opladen 1998, S. 67-82. ISBN 3-8100-2174-1. 29,80 DM.

Themen: Arbeitsmarkt, Autonomie und Souveränität, geschlechtliche Arbeitsteilung, Produktivität, Rationalisierung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Abstract
Brandt/Winker diskutieren das Potential von Telearbeit mit Blick auf die Möglichkeit des Aufbrechens der Geschlechterhierarchie. Telearbeit, so das Anliegen, ist nicht der Königsweg, kann aber ein Ausgangspunkt sein.

Inhaltsverzeichnis
1. Zukunftsversprechen Telearbeit
2. Telearbeit als Verengung der Diskussion um flexible Arbeit
3. Telearbeit und Produktivität
4. Telearbeit und Integration von Familie und Beruf
5. Telearbeit und Arbeitsinhalt
6. Telearbeit und Arbeitsrecht
7. Gleichberechtigung durch qualifizierte, abgesicherte, ortsungebundene Erwerbsarbeit

Bewertung
Aus strategisch-feministischer Perspektive vorgenommene kritische Bewertung der Telearbeits-Diskussion. Die konkreten politischen Forderungen überschreiten den Horizont der technikdeterministischen Debatte.

Inhalt

1. Zukunftsversprechen Telearbeit
Eingangs konstatieren Brandt/Winker ein „Zukunftsversprechen Telearbeit“ (S.67) und umreißen die diskursiven, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen der Entwicklung von TA. Ungeachtet unklarer Konsequenzen, vager Umsetzungsvorstellungen bzw. ungewisser Humanisierungs- und Rationalisierungspotentiale wird die Einführung der Telearbeit (TA) politisch und wirtschaftlich vorangetrieben (z.B. mit Subventionen). Gegenüber den technikkritischen achtziger Jahren gibt es gegenwärtig einen Meinungsumschwung (z.B. bei den Gewerkschaften).

2. TA als Verengung der Diskussion um flexible Arbeit
Ihre Absicht ist die Offenlegung der Fragwürdigkeit einer mit „Heilserwartungen“ verknüpften „undifferenzierte(n) ‚Schönwetterdiskussion‘ rund um Telearbeit“ (S.68). Mit ortsflexibler Erwerbsarbeit alleine sind die gewünschten Effekte nicht erzielbar. Brandt/Winker wollen aufzeigen, daß auf der Grundlage der gängigen Definitionen von TA und ihrer undifferenzierten Fokussierung auf den Erwerbsarbeitsort „die entscheidenden zukünftigen Veränderungen der Arbeitswelt ausgeblendet bleiben“ (S.69). Für sie kommt es darauf an, mit der Ortsflexibiltät zugleich auch die Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, die Gestaltung von persönlichkeitsfördernden Arbeitsinhalten und den arbeitsrechtlichen Schutz vielfältiger Formen neuer Selbständigkeit zu diskutieren. Nur unter Einbeziehung bisher ausgeblendeter Sachverhalte wie Rationalisierungserfolge, neuer Widersprüche zwischen Erwerbs- und Familienarbeit, Aufkommen neuer Routinetätigkeiten sowie arbeitsrechtlicher Deregulierungen sind konkrete Gestaltungsmöglichkeiten im Interesse der (weiblichen) Beschäftigten entwickelbar.

3. TA und Produktivität
Auf der Grundlage von Schätzungen und Hochrechnungen gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine zunehmende Beschäftigung durch TA. Unter Bezugnahme auf vorliegende Studien (insbesondere IAO-Fraunhofer), sprechen Brandt/Winker von einer „Suggestion von Beschäftigungschancen“ (S.70). Sie erinnern daran, daß TA kein neuer Beruf und keine eigenständige Tätigkeit ist, sondern eine neue ortsflexible Arbeits- oder Organisationsform. Hauptantriebsmotiv für ihre Einführung ist die Möglichkeit, Produktivitätsgewinne (10-50%) zu erzielen. Sie betonen die Notwendigkeit, bei der Einführung von TA eine offensive Diskussion der Umverteilung dieser Produktivitätsgewinne bei gleichzeitigem Abnehmen des Erwerbsarbeitsvolumen zu führen.

4. TA und Integration von Familie und Beruf
Die Autorinnen beklagen das „Festhalten an Vereinbarkeitsfloskeln“ (S.71) nicht nur in politischen Statements, sondern auch in der Wissenschaft. Es gibt eine Untersuchung die das „vielseitige Versprechen einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ empirisch untermauern kann. Vielmehr wird diese Frage derzeit nicht aufgegriffen. Den Grund sehen sie in einem kausalen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Geschlechter- und Frauenfrage aus der Telearbeitsforschung und einer technisch-arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsstrategie, in der TA das Herzstück bildet.
Obwohl Brandt/Winker aufgrund der räumlichen Nähe sowie der flexiblen und selbständigen Arbeitszeiteinteilung durchaus mögliche positive Nebeneffekte für die familiäre Situation sehen, verweisen sie gleichzeitig auf neuartige Formen von Zeitstreß, Vereinbarungsstreß und neue Mehrfachbelastungen infolge der zunehmenden Entdifferenzierung von Arbeit und Familie. Sie resumieren in Anlehnung an (Büssing/Aumann 1996) zwei widersprüchliche Tendenzen der raum-zeitlichen Nähe von Beruf und Familie. Einerseits bessere Koordinationsmöglichkeiten, andererseits besteht die Gefahr neuer Reibungsflächen für alle Beteiligten.
Die Abwesenheit vom Betrieb beinhaltet zudem ein erhebliches Risiko als Karriere- und Aufstiegshindernis. Weiter wird die feststellbare Work- und Non-Work-Scheidung durch die Telearbeiterinnen, wobei eine veränderte Grenzziehung zwischen öffentlicher (planbare und meßbare „real work“) und privater (informelle oder familäre Arbeit) Sphäre erfolgt, über die geschlechtsspezifische Organisation und Zuordnung verdoppelt. Sie bricht eben nicht auf.
Brandt/Winker fordern die „individuelle Ortssouveränität“ (S.74), die mittelfristig zum Ziel hat, daß die starre Grenzen zwischen Telebeschäftigen und Nicht-Telebeschäftigten aufgehoben wird. Es geht nicht um eine einmalige Entscheidung pro und contra, sondern um eine permanente, an die jeweiligen Bedürfnisse angepasste Entscheidungsmöglichkeit. In jedem Falle müsse für die TelearbeiterInnen tarifvertraglich eine Rückkehrmöglichkeit in den Betrieb festgelegt werden. Ungeachtet dessen bleibt die Forderung nach dem Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen von vorrangiger Bedeutung, da mit Säuglingen auf dem Arm oder Schulkindern an der Seite keine guten Arbeitsergebnisse erzielt werden können.

5. TA und Arbeitsinhalt
Brandt/Winker kritisieren die Vernachlässigung der arbeitsinhaltlichen Gestaltung ob der Fixierung der Telearbeitsdiskussion auf den Ort der Erwerbsarbeit. Sie bemängeln, daß, obwohl die konkreten Arbeitsinhalte direkte Auswirkungen auf die Telearbeitsform, zeitliche Flexibilität und geschlechtsspezifische Zuordnung nehmen, die Ausgestaltung von ortsflexibler Erwerbsarbeit nicht diskutiert wird. Sie finden es auffällig, daß Partizipationskonzepte kaum eine Rolle spielen. Frauen sind in den Routinebereichen der TA überrepräsentiert und damit wird die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung aufrecht erhalten. Bei den Frauen wachsen besonders belastende und in die berufliche Sackgasse führende hierarchisch und arbeitsteilig organisierte Telefon- und Computerarbeitsplätze.
Die Autorinnen fordern eine Umgestaltung der Arbeitsaufgaben bei TA, so „daß eine ganzheitliche, zukunftsweisende Tätigkeit in TA ausgeführt wird“ (S.76). Neben der inhaltlichen Aufwertung bedarf es der Vereinbarungen über zeitliche Verfügbarkeit von ArbeitnehmerInnen. Die neuen IuK-Techniken sollen nicht zur Kontrolle, sondern zur Arbeitserleichterung eingesetzt werden. Die Arbeitsplatzgestaltung muß den arbeitswissenschaftlichen und -rechtlichen Standards genügen. Partizipationsmodelle sollen geschlechtssensitiv geprägt sein.

6. TA und Arbeitsrecht
Brandt/Winker erörtern die arbeitsrechtlichen Konsequenzen von TA. Danach bilden die TelearbeiterInnen, die selbständig sind, bisher eine Ausnahme. Arbeitsrechtliche Bestimmungen verhinderten bisher eine breite Entlassung von ArbeitnehmerInnen in die Selbständigkeit. Gesicherte Zahlen über ‚Schein-Selbständige‘ sind noch nicht vorhanden. Auch wenn künftig mehr Männer als Frauen in den ‚Graubereich‘ der Schein- und Selbständigkeit fallen werden, bestehen für Frauen zahlreiche Gefahren (mithelfende Familienangehörige ohne eigenes oder mit geringem Einkommen, Konkurrenz mit billigen Familienangehörigen). Die Autorinnen befürchten, daß die TA zum Vehikel des Unterlaufens von Schutzvorkehrungen werden kann und dabei insbesondere Frauen Nachteile haben könnten. Sie fordern einen gesetzlichen Schutzrahmen für flexible Erwerbsarbeit in Form eines neuen Arbeitsvertragsgesetzes, neue soziale Sicherungssysteme, Mindeststandards bei Werkverträgen, staatliche Förderung von Einrichtungen, die gezielt Frauen beraten und weiterbilden sowie mittels Coaching Selbstausbeutung vermeiden helfen.

7. Gleichberechtigung durch qualifizierte, abgesicherte, ortsungebundene Erwerbsarbeit
Da Erwerbsarbeit in zeitlicher, räumlicher und organisatorischer Hinsicht flexibel wird, und die Nutzung von IuK-Technologien sich auf immer mehr Arbeitsplätze ausdehnt, wird TA ein Stück Normalität und der Begriff obsolet. Die Autorinnen bemängeln, daß der Begriff eine breite gesellschaftspolitische Diskussion über neue dezentrale Arbeitsformen gegenwärtig mehr behindert als fördert. Im Sinne eines Aufbrechens geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung bedarf es demgegenüber einer Diskussion wie die mit der TA einhergehenden Produktivitätsfortschritte zur Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit führen können, über die Gewährleistung individueller örtlicher und zeitlicher Souveränität für alle Beschäftigten, wie ortsflexible Erwerbsarbeit mit qualifizierten Arbeitsinhalten ausgestattet werden kann und wie arbeits- und sozialrechtliche Sicherungssysteme für die neuen Beschäftigungsformen gefunden werden können. Für die Mehrzahl der Frauen ist TA nicht der „neue Königsweg“ (S.81)
Jedoch kann das Verwischen der Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Haus- und Sorgearbeit immer wieder von neuem als Ausgangspunkt für die Thematisierung der Geschlechterrollen genutzt werden.

05.01.2001; KS