Kelly, Kevin: NetEconomy – zehn radikale Strategien für die Wirtschaft der Zukunft

Kelly, Kevin: NetEconomy – zehn radikale Strategien für die Wirtschaft der Zukunft, Econ Verlag Düsseldorf 1999 (amerikanisches Original 1998), 235 Seiten.

Themen: Effizienz, Monopol, Netz, Netzwerk, Skalenertrag, Standraum.

Abstract
Der Herausgeber des amerikanischen Magazins „Wired“ legt Prinzipien der Netzwirtschaft dar.

Inhaltsverzeichnis
1 Folge der Herde!
2 Steigende Skalenerträge
3 Überfluss statt Mangel
4 Künftig alles gratis?
5 Vorfahrt für das Netz
6 Vom Gipfel in die Talsohle
7 Von Standorten zu „Standräumen“
8 Innovation am Rande des Ruins
9 Beziehungstechnik
10 Chance schlägt Effizienz

Bewertung
Ein verständlich geschriebenes Buch über das Funktionieren von Netzwerken.

Inhalt

Hinter den charakteristischen Geräten der angebrochenen neuen Zeit — TV, Computer, Mobiltelefon — steht, wie Kelly einleitend bemerkt, etwas Größeres: Netzwerke. Sie haben ihre eigene Ökonomie, und diese, so Kellys Grundthese, wird die gesamte übrige Ökonomie bestimmen. Das Prinzip dabei ist, wie er weiter ausführt, dass das Immaterielle, wie es in Medien, in Dienstleistungen, in Software zur Geltung kommt, die Herrschaft über die „Hardware“ oder die materielle Welt erlangt (S. 9 ff).
Mit einer Statistik für die USA der Jahre 1990 – 1996 kann er belegen, dass eine Verlagerung vom Materiellen zum Immateriellen im Gange ist: die Beschäftigung der arbeitenden Bevölkerung mit materiellen Gütern hat in diesem Zeitraum leicht abgenommen, nämlich minus 1 %, die Beschäftigung mit immateriellen Gütern, plus 15 %, erheblich zugenommen (S. 17).
Kevin Kelly, Herausgeber des amerikanischen Kultmagazins Wired, wollte, so drückt er sich im Hinblick auf die Planung seines Buchs aus, „auf die Technologie hören“ und in „zehn verschiedenen Strophen“ ausdrücken, was er von ihr verstanden hat (S. 19).

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Folge der Herde! — mit dieser Provokation gegen einen von ihm nicht mehr als zeitgemäß erachteten Individualismus eröffnet Kelly und meint damit etwas sehr Spezifisches: den allgemeinen Trend zu Dezentralisierung, die mit der Verwebung der menschlicher Existenzen einhergeht. Wenn das Atom — lat. „Individuum“ — die Ikone des 20. Jahrhunderts war, so wird die des 21. Jahrhunderts das Netz sein (S. 21).
Das Weben technischer Netze, die wie alle Netze aus Knoten und Verbindungen bestehen, ist nach Kelly schon in den Jahrzehnten des späten 20. Jahrhunderts in Gang gekommen, aber erst zwei brandneue Errungenschaften, nämlich das Silikonchip und das Silikatglasfaserkabel, würden zur eigentlichen Dynamisierung der Vernetzungsprozesse führen. Sehr wichtig für Kelly ist dabei, dass Chips, die als Mikroprozessoren fungieren, dabei sind dermaßen winzig zu werden, dass sie praktisch in jedes Objekt werden schlüpfen können. All solche Objekte werden dadurch zu Knotenpunkten, die mit beliebig vielen anderen Knotenpunkten in Verbindung treten und dadurch Netzwerke bilden können. Als aussichtsreichsten Weg sieht Kelly ganz generell direkte Verknüpfungen zwischen dezentralen Elementen, weil dadurch ein Höchstmaß an Intelligenz generiert werden könne (S. 21 – 28).
Mit dem Prinzip der dezentralen Verknüpfung wird gegenwärtig in verschiedenen Feldern erfolgreich experimentiert. Kelly zeigt dies eindrucksvoll an einer Zementfirma namens Cemex, deren Losung ist, dass sie schneller als ein Pizza-Service sei. Der Witz dieser Unternehmung ist, dass die Zementfahrer selbst ad hoc und in Echtzeit ihre Routen planen; die Pünktlichkeitsrate beträgt dabei 98 % (S. 29). Ganz entsprechend werden Erfahrungen auch in nicht-menschlichen Experimentierfeldern gesammelt; so in der dezentralen Kommunikation zwischen Robotern, der sogenannten Schwarmtechnologie. Kelly betont, dass bei solchen Systemen der zentrale Steuerungsbadarf zwar nicht fehlt, aber außerordentlich gering ist (S. 29 f).

Als erstes Strategem für Netzwerkentwickler empfiehlt Kelly, von dezentralen Einheiten her für die notwendigen Verbindungskanäle zu sorgen und nur ein Minimum an Energie in Supervision zu stecken (S. 36). Das Eingangskapitel endet mit dem Satz (S. 38): „Das Spiel in der Netzwerkwirtschaft wird sein, das übersehene Kleine zu finden und die beste Art und Weise herauszubekommen, wie seine Macht im Schwarm entfaltet werden kann.“

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Im Kapitel zu den steigenden Skalenerträgen geht es darum, wie durch die Nutzung von Netzwerken Erfolg sich selbst verstärkt.
Grundsätzlich gilt: Der summarische Wert eines Netzwerks steigt im Quadrat seiner Teilnehmerzahl, wenn n (Teilnehmerzahl) nicht zu klein ist; beträgt dieser Gesamtwert eines Netzwerks bei 10 Teilnehmern also 100, so steigert er sich bei 20 Teilnehmern auf 400. Gerechnet wird hier einfach mit nn.
Diese Art der Wertzunahme kann noch gesteigert werden, wenn mehrere Netzwerke (x) miteinander verknüpft werden. Dann wird (nach Bob Metcalf) mit nxn gerechnet (S. 39 f). Sind nun an diese Art der Steigerung Erträge geknüpft, so ergibt sich das von Brian Arthur so genannte Gesetz steigender Skalenerträge (S. 41). Kelly behauptet in diesem Zusammenhang, dass in der früheren Wirtschaft (Fabrikwirtschaft) Ertragssteigerungen prinzipiell linear (1,2,3,4…) erfolgt sind, sie in der Netzwerkwirtschaft dagegen nach exponentiellem Prinzip (zumindest quadratisch) erfolgen.
Hierin sieht Kelly den Grund, dass in der neuen Wirtschaft sich in relativ kurzer Zeit — siehe Microsoft — Monopole bilden können. Anders als bei den Monopolen der Vergangenheit bestehe bei den neuen Monopolen die Gefahr von Preiserhöhungen und/oder Qualitätsverschlechterung praktisch nicht, wohl aber auf Grund der Kontrolle von Netzwerken die Gefahr der Ausschließung von Bewerbern, die in das System Innovationen bringen können (S. 44).
Empirisch hat sich gezeigt, bei Kelly belegt an der Ausbreitung von Fax und Internet, dass Netzwerkorganisationen in ihrem Anfangsstadium nur kleine Zuwächse erleben, wenn sie aber einmal etabliert sind, große. Allerdings gelten die aufgestellten Regeln, hieran lässt Kelly keinen Zweifel, nicht nur für Erfolgskurven, sondern ganz entsprechend auch für Misserfolgskurven.

Als zweites Strategem stellt Kelly auf, dass man im Anfangsstadium einer Netzwerkbildung auf kleine Netznutzungseffekte achten (Rückkopplungsschleifen bilden) und lange Reifungsprozesse, indem man etwa auf Kompatibilitäten achtet, absichern sollte (S. 56 ff).

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Überfluss, sagt Kelly, ist der Regent in der neuen Wirtschaft, nicht Knappheit. Eine wichtige Bedingung dafür sei der dramtische Kostenrückgang für Repetitionen, sei es bei Vervielfältigungen, Reproduktionen oder Kopien.
Den Grund für die Überwindung von Knappheit sieht er darin, dass Netzwerke einen Überfluss an Möglichkeiten hervorbringen; E-Mail-Adressen z.B. die Möglichkeiten, sie zu archivieren, automatisch zu sammeln, gleichzeitig zu beschicken etc. (S. 66). In diesem Sinne spricht er vom Netzwerk als einer „Fabrik von Möglichkeiten“. Allerdings könnte diese Explosion von Möglichkeiten mit ihren ins Unendliche strebenden Auswahloptionen einen beschränkenden Faktor enthalten. In jedem Fall werde es darauf ankommen, den Umgang mit myriadenfachen Vielheiten, wie sie für manche biologischen Systeme typisch sind, zu lernen (S. 69 f).

Als drittes Strategem arbeitet Kelly heraus, dass man mit vielen Netzen in Kontakt treten und in keiner Weise Zuflucht in der Knappheit suchen soll (S. 70).

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Die Tendenz zum „Künftig-Alles-Gratis“ begründet Kelly damit, dass der Wert der in der Netzwerkwirtschaft charakteristischen Produkte maßgeblich vom Wert der für ihre Herstellung notwendigen Chips abhängt. Diese aber werden in steiler Kurve besser und billiger (derzeit etwa alle 18 Monate Verdoppelung ihrer Leistung bei Halbierung ihres Preises), womit logischerweise der Wert der von den Chips abhängigen Produkte ebenfalls drastisch sinkt. Hinzu kommt, dass mit der Entwicklung der technischen Netze die Transaktionskosten der Informationsübermittlung ins Kostenlose stürzen (asymptotisch gegen Null gehen). Als generelle Haltung empfiehlt Kelly, derartige Verbilligungen im unternehmerischen Handeln zu antizipieren, also gedanklich vorwegzunehmen (S. 77 ff).
Im Rahmen der alten Ökonomie habe man wegen der Annahme, dass jeder Preis auf Knappheit beruht, Preissteigerungen und die ihnen folgenden Angebotssteigerungen auf das Knapper-Werden eines Guts zurückgeführt. In der neuen, im Milieu des Überflusses existierenden Ökonomie, würden sich diese Beziehung umkehren: Güter kommen zu sinkenden Preisen auf den Markt und zugleich steigt das Angebot (S. 81).
Wodurch kann man unter diesen Verhältnissen Gewinn machen? Kellys Antwort: Durch das Angebot von Technologie und Wissen, weil die Nachfrage danach schneller ansteige als die Preise verfallen (S. 83).
In der kommenden, Informationen über Informationen erzeugenden Wirtschaft wird eines sehr schnell verbraucht: Aufmerksamkeit. Um sie werde gerungen — durch Geschenke, weshalb Kelly in diesem Sinne auch von einer „Gabenwirtschaft“ spricht. Was können Sie verschenken? Das sei die Kernfrage dieses seines Buchs. Grundsätzlich spricht er zwei Möglichkeiten an, entweder etwas von geringem Wert zu verschenken oder etwas, wovon man sich nur schwer trennt. Welchen Weg man auch wähle, wichtig sei, dass durch das Schenken eine Dynamik ins Spiel kommt (S. 86 – 91).

Zum vierten Strategem gehört: so zu handeln, als ob die Produkte nichts kosteten; Nebenmärkte zum Markt zu machen (‚Software kostenlos, Handbuch 10 000.-‚); und, wo Wert verschenkt wird, sich dranhängen (S. 92 ff).

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„Vorfahrt für das Netz“, damit will der Autor sagen, dass beim Florieren eines Netzwerks auch dessen Teilnehmer profitieren.
Entscheidendes Merkmal eines Netzes sei, dass es kein echtes Zentrum und keine echte Peripherie hat, in anderen Worten: dass alle Distanzen gleichermaßen nah oder weit sind. Ein Netzwerk entspricht einem „Meta-Land“, in dem Beziehungen enger verkoppelt, intensiver und beständiger sind als in einem wirklichen Land und wo es Überlappungen mit sich überlappenden Loyalitäten gibt (S. 104).
Es gibt heute drei große Strömungen in der Netzwerkwirtschaft, die sie unumkehrbar zum „Gewinner“ macht. Die Globalisierung, eine Entmaterialisierung, in der Wissen tendenziell die Stelle von Materie einnimmt, und eine Vernetzung, die allgegenwärtig und tiefgreifend ist (S. 114).

Im fünften Strategem plädiert Kelly dafür, den Wert eines Netzes zu maximieren (auch die Partizipation an ihm möglichst leicht zu machen) und einen möglichst großen gemeinsamen Nenner zu suchen, d.h. höchste Leistung auf breitester Basis avisieren (S. 114 f).

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Vom Gipfel in die Talsohle: unter dieser Überschrift reflektiert Kelly über die Tücken des Erfolgs. Von Firmenleitern werde heute erwartet, dass sie in der Lage sind, etwas von ihnen Aufgebautes wieder einzureißen. Zwei Gründe führt Kelly für diese Erwartung an. Zum einen, weil gerade ein erfolgreicher Kurs dazu verführt, notwendige Innovationen zu übersehen; zum andern, weil es unter Bedingungen hochgradiger Vernetzung die Veränderung von etwas Altem schwieriger ist als einen Neuanfang zu machen. Dieser fängt im Allgemeinen allerdings in einer Talsohle an (S. 123 ff).

In seinem sechsten Strategem rät Kelly dazu, eine klare Sicht nicht als kurze Entfernung misszudeuten. Er meint damit: Selbst wenn der Horizont weit ist und Klarsicht herrscht, kann der Weg von einem zum nächsten Gipfel nur durch eine Talsohle führen. Auch bei solchen Aufs und Abs helfe der Marsch im Verbund.

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Standort ist für Kelly ein zu enger Begriff geworden, um wirtschaftliches Tun zu orientieren; deshalb spricht er von „Standraum“.
Bevor er dies in Kommunikationsbegriffen erläutert, setzt er sich kritisch mit der Ansicht auseinander, dass es (in der Zukunftwirtschaft) keine Distanz mehr gibt. Dies sei nur halbwahr. Denn auch bei schnellstmöglicher Informationsübertragung zwischen weit entfernten Lokalitäten auf der Erde bleibe die unüberwindliche Verzögerung einer Achtelsekunde. Für einen Teil der Tätigkeiten falle diese Verzögerung, die Distanz ausdrückt, nicht ins Gewicht, z.B. für eine Buchbestellung; für einen anderen Teil der Tätigkeiten aber sehr wohl, z.B. für einen Kuss.
Orte, führt Kelly nun aus, werden auch in Zukunft die Plätze des Wohnens sein, und auch Operationsbasis für den wirtschaftenden Menschen bleiben. Und doch bewegt sich die Wirtschaft mit ihren Marktplätzen in einen neuen Raum hinein, in dem neue Regeln gelten. Dieser Raum kann als elektronisch erzeugte Umgebung bestimmt werden, in der die Kommunikation mit einer Unzahl von Partnern, im Unterschied zu einem geografischen Ort, möglich ist (S. 136).
In dieser elektronischen Umgebung verläuft der Wertbildungsprozess eines Produkts nach einem neuen Muster ab: Während man bisher davon ausgehen konnte, dass einem Produkt an jeder Station, die es vor seiner Konsumtion durchläuft, Wert hinzugefügt wird und man dementsprechend von einer Wertkette sprach, wird nun (nach Paul Saffo) von einem Wertnetz gesprochen; dies bedeutet, dass die Werthinzufügung nun nicht mehr in einer linearen, sondern
in einer gewebeförmigen Form gedacht wird (S. 139). In diesem Muster allerdings werden, wiederum im Unterschied zur Wertkette, nur noch „Splitter von Mikrowerten“ hinzugefügt, die derart gering sind, dass man sie praktisch vernachlässigen kann. Eine Konsequenz hiervon wird sein, dass wegen der vernachlässigbaren Transaktionskosten neue — und weit mehr als an einem geografischen Ort möglich sind — Zwischeninstanzen entstehen werden. Sie werden dadurch charakterisiert sein, dass sie mittels Sperrfiltern und Schlüsseln, mit denen diese wieder geöffnet werden können, über die betreffenden Produkte verfügen können (S. 143).
Ändern werden sich auch die Größenverhältnisse sowohl auf Seiten der Beschäftigten wie auf Seiten der Konsumenten: In der sich auflösenden Ökonomie waren die hervorstechenden Größen „Person“ und „Masse“, die nun zugunsten verschiedenartigster neuer Mengen in den Hintergrund treten werden. Zum Beispiel und typischerweise wird die in den früheren Produktionsverhältnissen kaum bedienbare sogenannte schwierige Mitte, nämlich eine Größenordnung von 10 000 Konsumenten, mit entsprechenden Filterwerken eine leicht bedienbare Menge werden (S. 145 ff).

Im siebten Strategem Kellys geht es um die Empfehlung, sich auf Produzenten- wie Konsumentenseite auf plötzlich auftauchende und flexibel in Erscheinung tretende Mengen einzustellen, die weder das Individuelle einer Person noch das Amorphe einer Masse haben (S. 152).

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Auch am Rande des Ruins bzw. in anhaltender Schieflage, dies eine weitere These Kellys, können heute erfolgreiche Unternehmen entwickelt werden. Er berichtet von eigenen Erfahrungen, wo am Rande von anhaltendem Chaos durchaus produktive Wege beschritten worden seien; auch das Unternehmen „Apple“ rechnet er zu diesen abenteuerlichen Unternehmungen. Hochgradige Fluktuation sei deren charakteristisches Merkmal (S. 154 ff).
Strategisch gewendet, hier zum achten Strategem, bedeutet dieser Weg: Mut zum Chaos, selbst in Kernbereichen eines Unternehmens, wobei durch Nutzung der Fluktuationen Netze wachsen können; ein „kleines Herzstück“ müsse immer bewahrt werden, doch dürfe alles andere den Wechselfällen anheimfallen (S. 163 f).

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„Beziehungstechnik“ heißt die Programmatik dieses Kapitels. Produktivität, argumentiert Kelly, wird in der Netzwerkwirtschaft fast bedeutunglos. Worum es in ihr geht, ist vielmehr die Entwicklung von Beziehungen, in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Die Technologie wird dabei das Beziehungsmedium; wo die richtige Technologie angemessen eingesetzt wird, wird Vertrauen geschaffen (S. 165 f).
Eine wichtige Zukunftstendenz ist zuerst von Alvin Toffler gesehen worden, die er mit dem Begriff „Prosument“ umschrieben hat. Gemeint ist im Sinne Tofflers folgendes: Der Besitzer eines Telefonnetzes etwa verkauft den Konsumenten die Möglichkeit, selbst etwas zu produzieren, in diesem Fall Gespräche, so dass sie so besehen zugleich Konsumenten und Produzenten sind. Diese Tendenz, fährt Kelly fort, setzt sich in der ganzen Netzwerkwirtschaft fort. Online-Dienste, betont er, wurden dann lukrativ, als man Konsumenten wie (dem eigenen Betrieb angehörige) Produzenten behandelte, die zu dem angebotenen Dienst selbst etwas beitragen können und wollen. (Wenig versprechend sei demgegenüber die einem älteren Denken verhaftete Vorstellung, Informationen zum Herunterladen zu verkaufen. — S. 168 f)
Im Ganzen geht nach Kelly die Entwicklung dahin, dass die Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden sich (durch wechselseitige Kommunikation) dynamisieren und dadurch eng werden. Hierdurch könne etwas sehr Wichtiges entstehen, das weder verkauft noch heruntergeladen werden kann, weil es angesammelt werden muss: Vertrauen. Bestes Mittel, Vertrauen anzusammeln, sei, auf die „Symmetrie des Wissens“ zu achten, darauf nämlich, dass die miteinander in Verbindung Stehenden — wie gute Nachbarn — auf gleichen Feldern Entsprechendes voneinander wissen (S. 186).

Das neunte Strategem besagt, dass man den Kunden so einsichtig machen sollte, wie man (in dem betreffenden Feld) selbst ist, dass man auch zur Verbindung der Kunden untereinander beitragen und gegebenenfalls eine verbindende Technik dafür einsetzen soll (S. 191 ff).

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„Chance“, die Möglichkeit einer Realisierung, ist das große Stichwort des Schlusskapitels. Was ist der eigentliche Antrieb für die Akkumulation von Wert?, fragt Kelly und antwortet mit Steven J. Gould: Die Große Asymmetrie oder die Fähigkeit des Lebens, mehr zu erzeugen als zu zerstören (S. 197).
Vor einer Dekade wurde die Möglichkeit einer Website realisiert, deren Anzahl sich seither exponential entwickelt hat. Jede realisierte Möglichkeit bringt weiteres Vernetzungspotential, wobei mit der Entwicklung von Netzwerken die Übertragung realisierter Möglichkeiten beschleunigt wird. Diese Technologie kann demnach vor allem eines, die Steigerung von Möglichkeiten (S. 200 ff).
Hierin sieht Kelly die Chance für eine human(er)e Gesellschaft, indem die Menschen unter der Vielzahl von Möglichkeiten eine ihnen jeweils adequate finden können. Diese Transformation in eine neue Gesellschaft verlange auch einen neuen Maßstab für den „Fortschritt“: Produktivität, womit der Output von Gleichförmigem gemessen wird, sei kein geeigneter Maßstab mehr; ein besserer sei, die Anzahl an Möglichkeiten zu messen, die eine realisierte Möglichkeit (= Innovation) hervorbringt (S. 203).

Als letztes — oder erstes — Credo formuliert Kelly dieses Strategem: „Maximieren Sie die Vielzahl der Möglichkeiten.“ (S. 215)

Bemerkungen:
(1) Die Überschrift von Kellys letztem Kapitel heißt „Chance schlägt Effizienz“. Seine Begrifflichkeit scheint hier unscharf zu sein, denn er gebraucht die Begriffe der Produktivität und der Effizienz synonym. Doch unterscheiden sie sich: Mit „Produktivität“ wird die Größe eines Outputs bemessen, mit „Effizienz“ dagegen seine Zielgenauigkeit. Was Kelly als große Errungenschaft der Netzwerkwirtschaft ansieht, ist im Grunde deren Potential für zielgenaue Partnerschaften: Mit der Größe eines Netzwerks, könnte man im Sinne Kellys sagen, wächst die Chance, dass sich ‚genau die Richtigen‘ treffen. Dann allerdings wäre die Netzwerkwirtschaft nicht dadurch zu beschreiben, dass in ihr „Effizienz“ überwunden wird, sondern dadurch, dass sie auf eine spezifische Effizienz abzielt: Chancen zu erfüllen.
(2) Kellys Credo geht von der Maximierung der Chancen aus — eine ausgesprochen männliche Betrachtungsweise. Würde sie allein gelten, ergäbe sich das Problem, dass mit steigender Zahl der Möglichkeiten zwar die Chance wächst, ‚genau das Richtige‘ zu finden, aber, wegen der unübersehbaren Anzahl der Möglichkeiten, auch die Chance wächst, ‚es‘ nicht zu finden. Das Pendant zu jener Betrachtungsweise müsste sein, von der größtmöglichen Reduzierung der Zahl der Möglichkeiten auszugehen. In anderen Worten: Die Netzwerkwirtschaft kann nur funktionieren, wenn (Informations-) Maximierungsstrategien in einem gleichgewichtigen Verhältnis zu (Informations-) Selektionsstrategien entwickelt werden.

16.11.2001; MF