Willke, Gerhard: Die Zukunft unserer Arbeit

Willke, Gerhard: Die Zukunft unserer Arbeit, Campus Verlag Frankfurt/M 1999. 326 Seiten.

Themen: Arbeitszeit, Beschäftigungsstruktur, Organisation der Arbeit, Wertewandel.

Abstract
G. Willke (FH Nürtingen) analysiert Wandlungen der Arbeit.

Inhaltsverzeichnis
1 Umbruch der Arbeitsgesellschaft

2 Strukturwandel der Erwerbstätigen

3 Tendenzen des strukturellen Wandels

4 Brennpunkte künftiger Arbeit

5 Szenarien künftiger Arbeit

Bewertung
An den deutschen Verhältnissen orientiert werden die Wandlungstendenzen mit aussagekräftigen Statistiken belegt.

Inhalt

1
Den Umbruch der Arbeitsverhältnisse ins Auge fassend thematisiert Willke zunächst die Entwicklung des Arbeitsvolumens der Erwerbsarbeit in Deutschland: Im Trend sinkt es seit den 1960er Jahren, da die Zahl der Erwerbstätigen zwar leicht gestiegen, die Arbeitszeit aber überproportional gesunken ist (S. 17). Geht uns deshalb die Arbeit aus? — fragt Willke in Anspielung auf Slogans dieser Art. Nein, ist die Antwort, es ist bei uns nur ein relativer Mangel an bezahlter bzw. bezahlbarer Arbeit entstanden. (S. 23)
Die damit einhergegangene Freisetzung von Arbeitskräften, die sich im gleichen Zeitraum in steigenden Arbeitslosenzahlen bemerkbar gemacht hat, führt Willke auf produktivitätssteigernde Rationalisierungen zurück; aber: Ohne diese Rationalisierungen würden, unter der Bedingung globalisierter Konkurrenzmärkte, noch mehr Arbeitskräfte freigesetzt werden. (S. 28)
Insgesamt gehe die Entwicklung weg von der (auf Handarbeit gegründeten) Fabrikarbeit der Industriegesellschaft hin zur computergestützten Kopf- und Denkarbeit der Wissensgesellschaft. Dabei sei eine Reintegration von Lernen, Arbeiten und Weiterbildung unausweichlich. „Bei der Avantgarde der Erwerbstätigen fallen bereits heute Arbeits- und Lernprozesse in eins zusammen.“ (S. 35)

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Den Srukturwandel der Erwerbstätigkeit untersucht Willke unter mehreren Gesichtspunkten. Hinsichtlich der Beschäftigungsstruktur gibt er Zahlen für Westdeutschland, die zeigen, dass in der vergangenen Generation die Landwirtschaft in erheblichem Maße Arbeitskräfte verloren hat und die Industrie in — absolut — noch höherem Maße, dass aber der Dienstleistungs- oder tertiäre Sektor um mehr als die Gesamtheit dieser Verluste zugenommen hat. Dem relativen Anteil nach hat der Dienstleistungssektor von 43 % im Jahr 1970 auf 63 % im Jahr 1997 zugenommen. (S. 55)
Speziell im Bereich der Informations-Dienstleistungen sind beträchtliche Veränderungen im Gange bzw. noch zu erwarten, wobei hier allerdings die Prognosen weit auseinandergehen. So hat Prognos in Zusammenarbeit mit dem DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) 1997 eine Schätzung abgegeben, wonach in dem als „Informationswirtschaft“ definierten Bereich bis zum Jahr 2010 180000 neue Arbeitsplätze entstehen werden. In einem Bericht der Bundesregierung von 1999 ist allerdings geschätzt worden, dass im „TIME-Bereich“ (Tele-kommunikation, Information, Medien, Elektronik) bis zum Jahr 2010 1,5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen werden. (S. 73 f)
Zum Wandel der Tätigkeiten führt Willke aus, dass in Deutschland die an der Herstellung materieller Produkte orientierten Tätigkeiten rückläufig sind, und dass dies auch für die sogenannten primären Dienstleistungen (Handel, Transport, Büro, Gastronomie) gilt. Für die sogenannten sekundären Dienstleistungen (Entwicklung, Planung, Forschung, Management, Organisation) ist aber eine starke Zunahme zu verzeichnen, nämlich von 21 % im Jahr 1987 auf 31 % (Schätzwert) im Jahr 2000. (S. 81)
Was die Arbeitszeiten anlangt, kann man im Trend von einer kontinuierlichen Abnahme sprechen; dies gilt auch für den langfristigen Trend, z.B. für die Wochenarbeitszeit (Deutschl.):

1825 1913 1970 1995 2005
82 Std. 57 42 36 33 (S. 93)

Dabei ist in den jüngsten Jahrzehnten die Teilzeitarbeit im Vormarsch, von 10 % in 1970 zu
17 % in 1997, wobei dies allerdings (noch) ein weitgehend die Frauen betreffendes Phänomen ist (Deutschland 1997: 35 % der Frauen gegenüber 4 % der Männer in Teilzeitbeschäftigung — S. 104 f).
Auch in der Organisation der Arbeit ist ein Wandel spürbar; die Entwicklung gehe hin zur Gruppenarbeit, die als besonders erfolgreich gilt, wenn diese Merkmale gegeben sind:
— klare Zielvorgaben
— eindeutige, aber flexible Kompetenzverteilung
— kontinuierliche Rückmeldung
— Ergebnisorientierung (S. 119)
Der Wandel der Arbeitsorganisation drückt sich auch aus in der Abnabelung der Arbeit vom Betrieb, d.h. in der Telearbeit. In Deutschland wurde für 1999 geschätzt, dass von den 33 Mio. Erwerbstätigen ca. 1 Mio. in einem Telearbeitsverhältnis steht; hiervon sind nach Willke etwa die Hälfte Vertriebsleute, die übrigen „echte Telearbeiter“ (S. 121). Bemerkenswert ist noch der Nachweis, dass jüngere Erwerbstätige mehrheitlich und in deutlich höherem Maße als ältere Erwerbstätige der Telearbeit gegenüber aufgeschlossen sind (S. 127).
Im Ganzen resümiert Willke den Strukturwandel in der Arbeitswelt dahingehend, dass die typische Erwerbsarbeit verblasst gegenüber einem ganzen Srauß neu entstehender, noch so genannter atypischer Arbeitsverhältnisse; ein ins Auge fallender Bereich sind dabei die sekundären Dienstleistungen, wo eine neue Form der Selbständigkeit als Freiberuflertum erkennbar ist. In den Vordergrund gelangt Wissensarbeit im Team: „Lernen wird zu einer integralen Komponente von Arbeit. Die Produktion wird informatisiert und wissensabhängig.“ (S. 144 – 159, Zitat 159)

3
Die Tendenzen des Strukturwandels schaut sich Willke in diesem Kapitel näher an. Der technische Wandel bewirke in der Regel nicht nur eine höhere Effizienz (df. als technische Mehrergiebigkeit), sondern auch eine höhere Produktivität — df. als ökonomische Mehrergiebigkeit. Was die letztere betrifft, erklären Maschinenbauexperten prognostisch, dass binnen eines Jahrzehnts doppelte Produktion mit der Hälfte der Arbeitskräfte möglich ist (S. 168). Bedeutet dies, fragt Willke, langfristig die Tendenz zu einer Welt ohne Arbeit und kurzfristig eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit? Wenn durch eine derartige Produktivitätssteigerung, so die Antwort, Arbeitskräfte freigesetzt werden, bleibt offen, was mit ihnen geschieht: ob sie arbeitslos werden, ob sie neue Beschäftigung finden, oder ob sie an einer allgemeinen Reduktion der Arbeitszeit teilhaben. Willke neigt, was Deutschland betrifft, zu der Ansicht, dass Arbeitslosigkeit vor allem deshalb noch ein großes Problem ist, weil derzeit die Innovationen zu verhalten sind. Als Beispiel, wo durch neue Technologie schnell viele Arbeitsplätze entstehen können, nennt er die Biotechnologie, in deren Metier es im Jahr 1995 47000 Beschäftigte gab und wo für das Jahr 2000 mit mehr als der doppelten Zahl gerechnet wurde (S. 182).
Zu den Bedingungen der deutschen Entwicklung gehört auch der weltwirtschaftliche Wandel, zu dem Willke folgendes sagt: „Die Globalisierung … erzwingt Innovationen, stärkere Orientierung an den Kundenwünschen und -ansprüchen und fordert den Unternehmen deswegen mehr Flexibilisierung, höheres Tempo und eine höhere Lern- und Innovationsbereitschaft ab. Diese Entwicklungen erscheinen dauerhaft — und am Ende vorteilhaft für die Kunden. Ob sie auch günstig für die Arbeitenden/Erwerbstätigen sein werden, muss sich zeigen.“ (S. 200)
Der demographische Wandel hat ebenfalls Einfluss auf die Arbeitsverhältnisse. Bei der Weltbevölkerungwird für das kommende Jahrzehnt mit einem Zuwachs von ca. 6 Mrd. auf 7,1 Mrd. Menschen gerechnet. Für Deutschland wird demgegenüber nur mit einem minmalen Zuwachs gerechnet, nämlich von 82,0 Mio. (1999) auf 82,7 Mio. (2010). Zu dem früheren Zeitpunkt lag der Anteil von Ausländern in Deutschland bei 9 %, was in etwa auch ihrem Anteil an der Erwerbsbevölkerung entspricht; bis 2010 erwartet man hier, bei Rückläufigkeit des Anteils der gebürtigen Deutschen, eine Verdoppelung des Ausländeranteils (S. 203). Dabei werden vor allem wegen der weiter steigenden Lebenserwartung die Älteren in der Bevölkerung ihren Anteil ausbauen. Auf das für die Alterssicherung bedeutsame Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern wird die folgende Kurve für wahrscheinlich gehalten:
Erwerbstätige/Rentner

1950 4,0 : 1
1992 2,2 : 1
2030 1,4 : 1 (S. 208)

Schließlich spricht Willke noch vom Wertewandel. Insgesamt könne man eine Tendenz von Konformitätswerten zu Autonomiewerten konstatieren; dies bedeute (nach Rüegg 1987) Wandlungen von Zwängen zu mehr Freiheit, von Unter/Überordnung zu mehr Gleichheit, von Zweckrationalität zu mehr Mitmenschlichkeit. (S. 212)
Im Zuge dieses Wertewandels werde die Bedeutung der Arbeit relativiert zugunsten freier, disponibler Zeit (werde diese nun in zusätzlicher Arbeit, Freizeit, Selbsttätigkeit, Bildung oder ehrenamtlicher Tätigkeit genutzt). Zudem würden an die Arbeit die Anforderungen der Freude, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung gestellt. Leistung sei allerdings nach wie vor ein sehr wichtiger Fixpunkt im Rahmen der Arbeitsverhältnisse. (S. 213)

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Als bedeutenden künftigen Brennpunkt sieht Willke die Erwerbstätigkeit von Frauen, die weiterhin auf dem Vormarsch ist, wobei die Statistik der Gegenwart sie schwerpunktsmäßig in Büros, in Gesundheits- und in Sozialdiensten ausweist. Die Möglichkeiten der Telearbeit, stellt Willke fest, werden in hohem Maße von Frauen ergriffen.
Ein auffälliger Trend ist der allgemeine Anstieg des Ausbildungsniveaus, der Willke zufolge im nächsten Jahrzehnt anhalten dürfte und im Jahr 2010 unter den Erwerbstätigen 20 % Hochschulabsolventen erwarten lässt (S. 237). Dieser Trend steht grundsätzlich im Einklang mit einem anderen Trend, den Willke so ausdrückt: „Im Zuge der Informatisierung ‚virtualsiert‘ sich ein Großteil der Tätigkeiten. Die Wertschöpfung ‚entmaterialisiert‘ sich und verlagert sich von materialorientierten zu wissensbasierten Tätigkeiten.“ (S. 241)
Offen ist, und wird kontrovers diskutiert, ob von diesen Trends die Bevölkerung im Ganzen wird profitieren können oder ob eine Polarisierung zwischen Begünstigten und Benachteiligten eintreten wird. Dass es beim jetzigen technologischen Wandel in größerem oder kleineren Umfang Verlierer gibt, ist weitgehend unbestritten; und die Frage steht (durch Ulrich Beck und andere) zur Diskussion, ob für die Verlierenden in einem gemeinwirtschaftlichen Sektor der Arbeit ein besonderer Zugang zu ihr geschaffen werden sollte. (S. 249)

5
Im Hinblick auf die Bedingungen künftiger Arbeit betont Willke, dass schon in den vergangenen Jahrzehnten, als die Arbeitslosigkeit sich ausprägte, zugleich auch die Zahl der Erwerbstätigen zugenommen hat; dies letztere sei zu wenig gewürdigt worden. Und er sieht keinen Grund, warum die Zunahme der Erwerbstätigen nicht weiter anhalten sollte. Klar ist für den Autor allerdings auch, dass Erwerbstätigkeit in mehrfacher Weise ihren Charakter ändert:
— „Erwerbsarbeit wird dezentral.“ (S. 267)
— „Der Wunsch nach sinnerfüllender Tätigkeit wird stärker.“ (ebenda)
— „Arbeitsinhalte weden immer stärker von der Mikroelektronik … geprägt.“ (ebenda)
— „Ein typisches Merkmal ist … die Gruppenarbeit.“ (S. 268)
— „An die Stelle des traditionellen ‚Normalarbeitstages‘ tritt zunehmend ein ‚Fleckerlteppich‘ der Arbeitszeiten und der Beschäftigungsformen.“ (ebenda)
— Lernen wird zu einem integralen Bestandteil der Arbeit. (S. 269)

Sind wir, fragt Willke am Ende des Buchs, „auf dem Weg in die ‚Tätigkeitsgesellschaft‘?“ Gemeint ist mit diesem Begriff (gemünzt von Dahrendorf 1982) die Chance, dass nach 200 Jahren industriell geprägter Arbeit an deren Stelle autonome, auf Selbstverwirklichung zielende Tätigkeiten treten. Für Willke drückt sich in diesem Bedürfnis nicht etwa ‚das Ende der Arbeitsgesellschaft‘ aus; eher sieht er darin einen Weg in die Normalisierung nach einer Ära übersteigerter Erwerbsarbeit. Es geht, wie er es (S. 294) formuliert, um „ein neues Gleichgewicht zwischen Erwerbsarbeit und anderen Dimensionen menschlicher Tätigkeit.“

19.11.2001; MF