Qualitätssiegel Humane IT: Wer ein Interesse hat und wer nicht

Qualitätssiegel Humane IT: Wer ein Interesse hat und wer nicht

Die Tübinger Integrata-Stiftung plant ein Qualitätssiegel für den humanen Einsatz der IT. Doch die aktuellen Entwicklungen werfen neue Fragen an dieses Siegel auf.

Von Egon Scherer

Die chinesische Regierung plant bis zum Jahr 2020 das „System für Soziale Vertrauenswürdigkeit“. Das Ziel: „Die Vertrauenswürdigen sollen frei unter dem Himmel umherschweifen können, den Vertrauensbrechern aber soll kein einziger Schritt mehr möglich sein“. Ein System mit einem allwissenden und allsehenden digitalen Mechanismus, der mehr weiß über die Bürger, als sie selbst.

Realisiert wird dieses System mittels einer App und Big Data, natürlich nach den Vorstellungen der Partei. Eine digitale Diktatur? Schrecklich dieser inhumane Einsatz der IT, werden wir in Deutschland sagen, aber wie weit sind wir eigentlich davon entfernt oder sind wir sogar schon weiter? Die chinesische Regierung kann derzeit noch weitestgehend ungestört, da ohne spürbare Opposition, über ihre digitalen Pläne und Ziele kommunizieren. Sicherlich ist man auch überzeugt, dass dies alles zum Wohle des Menschen, also human, ist.

Für das angestrebte „Qualitätssiegel Humane IT“ der Integrata-Stiftung ergeben sich nicht nur unter diesem Aspekt für mich einige grundlegende Fragen:

  • Für welches Staatgebiet bzw. welchen Wirtschaftsraum soll dieses Gütesiegel gelten? Deutschland, EU?
  • Wird dieses Gütesiegel im Kontext einer offenen demokratischen Gesellschaft definiert werden?
  • Wer hat daran tatsächlich ein nachhaltiges Interesse?

Die Regierungen und Wirtschaftskonzerne von Staaten wie China, Saudi-Arabien, Polen, Ungarn, Russland, Türkei und – vermutlich muss ich auch die USA nennen – haben kein Interesse an einem funktionierenden Rechtsstaat und an einer offenen Gesellschaft, wie viele das in Deutschland und in einigen EU-Ländern anstreben. Ein Gütesiegel für Softwareprodukte und „digitale Produkte“ (IOTs) ist in diesen Ländern vermutlich nicht gewollt und wird deshalb nicht akzeptiert werden. Wie groß ist dann tatsächlich das Interesse von global agierenden deutschen Konzernen?

Fakt ist: Immer mehr Menschen sind mit dem Umgang ihrer persönlichen Daten nicht mehr einverstanden, die Akzeptanz für humane IT-Produkte wird in den nächsten Jahren steigen. Aus meiner Sicht könnte dies eine Chance für mittelständische Unternehmen mit „lokalem Vertriebsgebiet“ sein, sich zu differenzieren und eine nachhaltige Akzeptanz bei den Kunden erreichen. Wenn wir es ernst meinen mit Menschen- und Bürgerrechten ist ein humaner Einsatz von IT zwingend notwendig, wird aber auf erheblichen Widerstand in Teilen der Wirtschaft und Politik stoßen. Diesen Widerstand müssen wir aber akzeptieren und als Herausforderung annehmen. Hierzu ist es notwendig, die humanen Grenzwerte für die IT-Systeme zu definieren, um dann beurteilen zu können, ob etwas tolerabel ist oder nicht.

Aus meiner Sicht haben wir in vielen Bereichen der Politik eine starke Tendenz zur Generalüberwachung, die ganz elementar mittels IT realisiert wird. Diese Überwachung muss im Kontext einer offenen Gesellschaft, der Menschen- und Bürgerrechte analysiert werden, diese Ergebnisse können dann zur Definition von ersten Grenzwerten dienen. Ganz generelle Aspekte zur Definition von Grenzwerten sind sicherlich sinnvoll und erforderlich, müssen jedoch praxisnah und in gewisser Weise messbar sein.

Das Ignorieren von negativen wirtschaftlichen Entwicklungen, wie geplante Obsoleszenz, die Generierung von Bedürfnissen und damit verbundenem massivem Ressourcenverbrauch, die durch Einsatz von IT befördert wird, ist schon sehr weit fortgeschritten, es wird allerhöchste Zeit hier gegenzusteuern.

 

Nach dem Studium der Wirtschaftsinformatik habe ich den Einsatz der Informationtechnologie als lokale EDV, im Kontext des Internets, bis zur globalen Digitalisierung vorwiegend in Managementfunktionen begleitet. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit philosophischen und soziologischen Aspekten in diesem Kontext. Fragen nach dem Beitrag zur Lebensqualität dieser Technologien führten mich zum Bereich Resonanz und Kunst.