Lévy, Pierre: Die kollektive Intelligenz – Eine Anthropologie des Cyberspace
Lévy, Pierre: Die kollektive Intelligenz – Eine Anthropologie des Cyberspace, Bollmann Verlag Mannheim 1997 (Franz. Original: L‘ intelligence collective. Pour une anthropologie du cyberspace, Paris 1995). 252 Seiten.
Themen: Anthropologischer Raum, Autopoiesie, Demokratie, Navigation, Semiotik, Wissen.
Abstract
Lévy entwirft eine Pragmatische Philosophie, in der eine sich selbst organisierende kollektive Intelligenz im Zentrum steht.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
ERSTER TEIL: DAS ENGINEERING DER SOZIALEN BINDUNGEN
Eins: Die Gerechten
Zwei: Die menschlichen Qualitäten
Drei: Vom Molaren zun Molekularen
Vier: Die Dynamik intelligenter Städte
Fünf: Choreographie der Engelkörper
Sechs: Kunst und Architektur des Cyberspace
ZWEITER TEIL: DER RAUM DES WISSENS
Sieben: Die vier Räume
Acht: Was ist ein anthropologischer Raum?
Neun: Identitäten
Zehn: Semiotiken
Elf: Figuren des Raumes und der Zeit
Zwölf: Navigationsinstrumente
Dreizehn: Objekte des Wissens
Vierzehn: Epistemologien
Fünfzehn: Die Beziehungen zwischen den Räumen
Epilog
Bewertung
In einer etwas eigenwilligen Sprache verfasst, lädt Lévy’s Werk zum Nachdenken über die gegenwärtigen sozialen Wandlungen ein.
Inhalt
Prolog
In Umrissen schickt Lévy einige Gedanken und entsprechende Grundbegriffe seiner Konzeption voraus. Um ihn gleich selbst sprechen zu lassen: „Die Netzkultur hat noch keine definitive Gestalt angenommen, die technischen Mittel stecken gerade erst in den Kinderschuhen, das Wachstum ist noch lange nicht abgeschlossen. Es ist noch nicht zu spät, um gemeinsam darüber nachzudenken und den Lauf der Dinge zu beeinflussen. In diesem sich eröffnenden neuen Raum ist noch Platz für Visionen.“ (S. 8 f)
Die Verschmelzung all der vielen Medien zu dem, was Multimedia genannt wird, wird in Lévy’s Augen gegenwärtig überbetont. Bedeutungsvoller, und deshalb von ihm akzentuiert, erscheinen ihm die großen Konsequenzen dieser Entwicklung in kultureller und zivilisatorischer Hinsicht. Besonders dringlich in dieser von Unbestimmtheit bestimmten Zeit sind für ihn, „neue Denk- und Verhandlungsmethoden zu erfinden, die echte kollektive Intelligenzen zulassen könnten. … Wir werden die Instrumente der Kommunikation und des kollektiven Denkens nicht neu erfinden können, ohne auch die Demokratie, eine überall verfügbare, aktive, molekulare Demokratie (die über die repräsentative Demokratie hinaus geht, wie an anderer Stelle gesagt wird — MF) neu zu erfinden. An diesem Punkt … könnte die Menschheit ihr Werden wieder in die Hand nehmen … (S. 12) Die aktuelle Situation sei vergleichbar mit einer Situation, in der Sprache geboren wird, eine Situation, in der man noch nicht wissen kann, wie sich dieses Instrument gestalten wird. Mit der Entstehung von Schriftsprachen habe man in dieser Hinsicht Erfahrung, im Wesentlichen allerdings die einer damit einhergehenden Spaltung der Gesellschaft: dort ein (bürokratischer) Apparat, in dem die schriftgestützte Information weiterverarbeitet wurde, hier die verwalteten Individuen. „Das Problem der kollektiven Intelligenz besteht nun darin, ein Jenseits der Schrift, ein Jenseits der Sprache zu entdecken, zu erfinden, damit die Verarbeitung von Information überall distribuiert und koordiniert werden kann und nicht länger Privileg getrennter sozialer Organe bleibt, sondern sich auf natürliche Weise in alle menschlichen Aktivitäten integriert und in die Hände des einzelnen zurück- kehrt.“ (S. 15) Zwei elementare Schritte seien dazu notwendig: Erstens unser eigenes Wissen allgemein zugänglich zu machen. Zweitens die Instrumente der Kommunikation handhabbarer zu machen als es das übliche Schriftinstrumentarium ist. In diesem Sinne pointiert Lévy: „Wir haben ein Rendez-vous mit der Über-Sprache.“ (S. 16)
Dann, in der Hinführung zu den einzelnen Kapiteln, werden Gedanken dargelegt zu ver-schiedenen Topics, zunächst Ökonomie: Auf lange Sicht hänge alles von der Lebendigkeit der Netze ab, die wir zur Erzeugung, Aufbereitung und zum Austausch von Wissen schaffen, en passant mit der bemerkenswerten Hypothese, dass der mit den 1970-er Jahren beginnende Niedergang der bürokratischen Planwirtschaft (Osteuropas) und ihr schließlicher Zusammenbruch auf Mangel an Flexibilität gegenüber den neuen Entwicklungen beruhte.
Anthropologie: Lévy führt hier den für sein Denken wichtigen Begriff des ANTHROPO-LOGISCHEN RAUMS ein, ein System der Nähe, das in Abhängkeit von Techniken und Bedeutungen (Sprache, Kultur, Konventionen, Vorstellungen, Emotionen) besteht. Im Einzelnen unterscheidet er als sich überlagernde Räume den der Erde, des Territoriums, desweiteren (seit dem 16. Jahrhundert sich auftuend) den Raum der Waren und (seit dem Übergang der 1960-er zu den 70-er Jahren in Erscheinung tretend) den Raum der kollektiven Intelligenz.
Soziale Bindung: Sie vollziehe sich in dem neu angebrochenen Zeitalter, so eine zentrale Behauptung, wesentlich über das Lernen voneinander. Der ‚andere‘ erscheint wegen seines verschiedenen Lebens als ein anderes Wissender als ‚ich‘. — Schließlich definiert Lévy noch Kollektive Intelligenz: „Es ist eine Intelligenz, die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert schafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann … Grundlage und Ziel der kollektiven Intelligenz ist gegenseitige Anerkennung und Be- reicherung …“ (S. 29) Um möglichst keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, betont Lévy, dass sein Begriff der kollektiven Intelligenz nichts mit Organisationsformen zu tun hat, in denen der Einzelne als austauschbar angesehen wird; er spricht in diesem Zusammenhang von einem neuen Humanismus, wofür er weniger eine wissenschaftliche als eine philosophische und praktische Auseinandersetzung initiieren wolle. (S. 32 – 35)
ERSTER TEIL: DAS ENGENEERING DER SOZIALEN BINDUNGEN
Kapitel Eins
handelt von einer Ethik der kollektiven Intelligenz. Gastfreundschaft ist für Lévy ein Beispiel, wie Menschen gemeinschaftsübergreifend Individuen an Kollektive binden, ein Grundthema der Geschichte von Sodom und Gomorrha, in der ein „Gerechter“ diese Bindungsarbeit leistet. „Die Gerechten“ — wie ‚menschliche Menschen‘ in jüdischer Tradition genannt werden — „entfalten Potentiale …alles was die Menschen wachsen lässt …“ (S. 43)
Kapitel Zwei
spricht von der Ökonomie der kollektiven Intelligenz. Der Begriff der Informationsgesellschaft, damit beginnt Lévy hier, ist ein leicht misszuverstehender Begriff. Denn er suggeriere, dass die Gesellschaft (statt von der Verarbeitung von Materie) nun durch die Verarbeitung von Information bestimmt würde. Gewiss spielt deren Automatisierung auch in Lévy’s Sicht eine Rolle, doch nach seinem Dafürhalten wird sich alles, und ist schon im Begriff dazu, um die Erzeugung sozialer Bindungen drehen, um „Beziehungen“. Davon handle die aufkommenden Ökonomie, die er eine „Ökonomie der menschlichen Fähigkeiten“ nennt. (S. 51)
Kapitel Drei
arbeitet eine Bewegung heraus vom Schweren (Molaren) zum Feinen. Unter anderem zeige sie sich in den Techniken der Informationsübertragung, die in drei Gruppen eingeteilt werden können: die körpergebunden, die medialen und die digitalen. Zu den ersteren zählen Tanz und Gesang; zu den mittleren Radio und Fernsehen; zu den letzteren alle in Bits zerlegten Informationen.
Analog betrachtet Lévy menschliche Organisationen, die von schwerfälligen Massen (z.B. Stämme, Großunternehmen bis zu hochbeweglichen ‚molekularen‘ Gruppen reichen, für die eine angemessene Umgangsweise gerade erst entwickelt werde: „Die Politik des Molekularen betrachtet die Gruppen hingegen nicht mehr als ausbeutbare Energiequelle, als nützlich Kraft, sondern als kollektive Intelligenzen, die sich Projekte erarbeiten und Ressourcen erschließen, die ihre Kompetenzen ständig verfeinern und auf eine Bereicherung ihrer inneren Qualitäten hinarbeiten.“ (S. 64)
Kapitel Vier
entwirft eine Selbstorganisation der Menschen mittels des Cyberspace, die an der Demokratie in der griechischen Polis orientiert ist; man trifft sich, kann frei die Stimme erheben, ein gemeinsamer Wille entsteht durch eine ‚Polyphonie‘ der geäußerten Stimmen: „Ein Mechanismus direkter Demokratie in Echtzeit im Cyberspace würde es den Bürgern erlauben, die alltäglichen Probleme zu formulieren, neue Aspekte einzubringen, Argumente zu erarbeiten und zu den unterschiedlichsten Themen verschiedene, voneinander unabhängige Positionen zu beziehen. Auf diese Weise könnten die Bürger eine gemeinsame politische Landschaft entwerfen, die qualitativ beliebig differenziert sein könnte und nicht von den großen molaren Brüchen zwischen Parteien definiert wäre.“ (S. 76)
Lévy fragt desweiteren nach verborgenen Potenzen diktatorischer Macht in gut gemeinter ‚Cyberspace-Demokratie‘. Seine generelle Antwort ist: je besser sich ein Gemeinwesen aufgrund von Dialogen bzw. „Multilogen“ kennt, desto geringer die Gefahr unerwünschter Macht.
Kapitel Fünf
verknüpft sich mit einer Theologie der islamischen Blütezeit des 10.-12. Jahrhunderts (Al-Fârâbi u.a.), um sie zu enttheologisieren. Das Gemeinsame der Theologie und der Atheologie ist die „reziproke Implikation von Welt und Denken“ (der Kosmos denkt in uns und wir denken ihn). Die virtuellen Welten des Cyberspace könnten verstanden werden als „Instrumente der Selbsterkenntnis, der Selbstdefinition von Gruppen von Menschen, die sich so als kollektive, autonome und autopoietische (d.h. sich beständig selbst herstellende) Intelligenz konstituieren.“ (S. 106) Ein intelligentes Kollektiv, so Lévy weiter, ähnelt in gewisser Weise einer ‚Aktiengesellschaft‘, in die ein ‚Aktionär‘ statt Kapital sein Wissen, seine Erfahrung, seine Lern- und Lehrfähigkeit einbringt. Ein bloßes Netz zum Transport von Informationen sei noch keineswegs ein Instrument zur Herstellung intelligenter Kollektive, wie am Beispiel des Fernsehens (wo die Zuschauer rein technisch miteinander vernetzt sind) klargemacht wird; erst, wenn dieses Medium so gestaltet ist, dass die Zuschauer sich gegenseitig ausfindig machen können, könne man von einem intelligenten Kollektiv im definierten Sinne sprechen. „Nur lebendige, wirkliche Menschen können die kollektive Intelligenz wirksam werden lassen, denn die virtuelle Welt — und das zu betonen scheint uns wichtig — ist nur ein Medium für kognitive, soziale und emotionale Prozesse, die zwischen sehr realen Individuen stattfinden.“ (S. 121)
Kapitel Sechs
behandelt eine mögliche architektonische Gestaltung des Cyberspace unter der Voraussetzung, dass in absehbarer Zeit die meisten Bilder und Botschaften unseres Planeten in diesem neuen Raum vorhanden sein werden. Dann würden natürlich auch die unter-schiedlichsten Vorstellungen davon, was auf dieser „offenen Baustelle“ geschehen soll, aufein-ander prallen. Das Spektrum solcher Vorstellungen könne reichen von den hässlichen, in vielen Science-Fiction-Beiträgen avisierten Phantasien wie unbeherrschbare Finanzimperien oder Kriegen geklonter Wesen bis hin zu Räumlichkeiten, die eher einem griechischen Tempel oder einer gotischen Kathedrale gleichen. Wie immer der Cyberspace beschaffen sein wird, alle seine Elemente würden den „molekularen Charakter“ der digitalen Information haben.
Hier glaubt Lévy nun, die Chancen abschätzen zu können, dass aus dem Cyberspace kein Herrschaftinstrument wird. Bisher sei die Entstehung von Sprachsystemen immer mit einer „Territorialisierung“ verbunden gewesen, in dem Sinne, dass die Sprache partikularisiert und ihr bestimmte (typischerweise kognitive) Deutungsmuster zur Aufrechterhaltung von Herrschaft zugewiesen wurden. Jetzt aber sei die Möglichkeit gegeben, so die These, die ‚Terri-torialisierung‘ der Sprache unwiderruflich zu beenden. Dazu müsse eine Art von Verfassung geschaffen werden, in der folgende Akzente gesetzt sind:
— der Einsatz von Instrumenten, die Lernen und Wissensaustausch fördern
— Kommunikationsstrukturen, die das Zuhören fördern
— Systeme, die mit der Ausbreitung autonomer Individuen und Kollektive rechnen
— semiotische Verfahren (z.B. Nutzung von Datenbeständen), die Majoritäten zugänglich sind (S. 133).
„Wir plädieren hier für eine Architektur ohne Fundament, die derjenigen von Booten ähnelt, mit all deren ozeanographischen Instrumenten zur Navigation und Orientierung im bewegten Wasser. … Die Architektur der Zukunft, die alles andere sein will als ein Theater der Repräsentation, versammelt Flöße von Sinnbildern für die Durchquerung des Chaos.“ (S. 134)
ZWEITER TEIL: DER RAUM DES WISSENS
Kapitel Sieben
handelt von den im Epilog genannten vier anthropologischen Räumen: Erde, Territorium, Raum der Waren, Raum des Wissens. Es sind dies für Lévy, neben vielen anderen benennbaren (Bedeutungs-) Räumen, Grundkategorien, deren ineinander greifendes Verhältnis er — wie immer wieder betont — nicht strikt historisch verstanden haben will.
Die Erde steht für den „unerinnerlichen Zeit-Raum, dem man keinen Ursprung zuweisen kann.“ (S. 137) In diesem Raum, in dem die Tiere im Unterschied zum Menschen in Nischen leben, ist für den Autor alles „wirklich“.
Das Territorium lässt er vor 12 000 Jahren beginnen (etwas willkürlich — die Zeit der Be-endigung der letzten Eiszeit/MF); es ist in seinem System die Räumlichkeit für die Entfaltung von Ackerbau und Viehzucht, von Stadt und Staat, von Schrift und „Trennung der Arbeit nach sozialen Kriterien“ (S. 138).
Der Raum der Waren, für Lévy schon in der klassischen Antike angelegt, aber eigentlich erst im Europa des 16. Jahrhunderts zur vollen Entfaltungskraft gebracht, macht den Kapitalismus aus, der ohne die Grundlage des Territoriums und des Staats in ihm undenkbar sei; alles sei seitdem, so der Marx-Kenner Levy, diesem Wirtschaftsprinzip unterworfen worden.
Der Raum des Wissens, von Lévy als nur virtuell denkbar deklariert, ist für ihn (weit) mehr als das bis dato unter ‚Wissenschaft‘ Verstandene; auch „Affekt-Denken“, „Gesten-Denken“ etc. ist miteingeschlossen. Dieser sich in unserer Zeit öffnende und Eigenständigkeit erlangende Raum wird verglichen mit einem „elektronischen Gewitter“, das den elementaren Raum der Erde „verdoppelt, vervielfacht und verändert.“ Dieser neue Raum könne „Formen der Selbstorganisation und Soziabilität beinhalten, deren Ziel die Erzeugung von Subjektivität ist.“ (S. 146 f)
Kapitel Acht
stellt die Frage, was ein anthropologischer Raum ist. Sein Organisationsprinzip ist nach Lévy die Herstellung von Nähe und Distanz, und zwar in Hinsicht auf Bedeutungen. Zu einem vor dreihundert Jahren in ein Buch geschriebenem Satz, beispielsweise (der Franzose denkt hier garantiert an Descartes‘ Cogito ergo sum/MF), könne eine intensivere Beziehung bestehen als zu einem Nachbarn in der U-Bahn; „Anthropologischer Raum“ kann demnach mit „Bedeutungswelt“ übersetzt werden. Es ist aber nicht eine beliebige Bedeutungswelt; was sie zum anthropologischen Raum qualifiziert, ist nach Lévy, dass sie strukturierend ist, d.h. grundlegende Sinnzusammenhänge schafft, lebendig, im Unterschied zu bedeutungslos gewordenem Zeugs der Vergangenheit, autonom , also den in der betreffenden Welt Lebenden zugehörig, und irreversibel , nämlich unbedingte Grundlage für den Fortgang des menschlichen Lebens, ist. Es sind Muster, wie der Autor betont, die nicht etwa nur für eine Regionalkultur, sondern für die gesamte Menschheit relevant sind. Er spricht auch von ‚Existenzebenen‘, die er aber um Gottes willen nicht als historische Schichtenabfolge (im Sinne marxistisch-leninistisch-stalinistischer Geschichtsauffassung/MF) missinterpretiert haben will. Als philosophischem Praktiker genügt es Lévy vollkommen, wenn die kartographische Begrifflichkeit des anthropologischen Raums als „Checkliste“ zur Erschließung menschheitsgeschichtlich wichtiger Bedeutungswelten dienen kann.
Kapitel Neun
hat die jeweiligen Identitäten der vier anthropologischen Räume zum Thema. Im Raum der Erde sei es der Name (oder ein Ersatzzeichen dafür, wie zum Beispiel ein Wappen), der Identität verleiht; im Raum des Territoriums der Platz in einer Hierarchie; im Raum der Waren die Rolle im Produktionsprozess; im Raum des Wissens ein dynamisches Bild, das sich der Mensch zur sinnstiftenden Durchforschung dieses Raums schafft.
Der Übergang zur letztgenannten Identitätsbildung, unvermeidlicherweise von einer Identitäts-krise begleitet, interessiert Lévy natürlich am meisten: die vorgenannten Identitätsbildner würden in den Hintergrund rücken, weil im Vordergrund die puren Zeichen, die sich die Menschen in neuer Freiheit beständig als Ausdruck ihrer Subjektivität wählen können, in den Vordergrund rücken. Eine volle Identität, sagt Lévy, kann der Mensch allerdings nur gewinnen, wenn er die früheren Identitätsbildner in die neue Möglichkeit einbezieht.
Kapitel Zehn
heißt „Semiotiken“. Hier geht es sich um die Zeichensysteme, die den jeweiligen anthropologischen Räumen eigen sind. Im Raum der Erde seien es die rhizomatischen, solche, die dauernd ihre Plätze tauschen; in Raum des Territoriums die schnittartigen, solche, in denen ein gewaltsamer Schnitt herrscht; im Raum der Waren die illusionsartigen, solche, die wie gelöst von der Realität umherhuschen, zum Beispiel Geld; im Raum des Wissens die erratischen, solche, die wie ein irgendwohin verschlagener Findling für sich stehen. Die letztere Art der Semiotik repräsentiert für Lévy eine Zeit, in der jeder Mensch wieder ‚das Wort ergreifen‘ kann.
Kapitel Elf
malt das vorangegangene Kapitel noch durch charakteristische Figuren in den vier Räumen aus. Zu dem sich neu auftuenden Raum heißt es: „Im Raum des Wissens erzeugt jede kollektive Intelligenz ihre eigene Dauer, und die Individuen machen sich wieder ihre subjektive Zeitlichkeit zu eigen.“ (S. 181)
Kapitel Zwölf
untersucht Navigationsinstrumente und zielt auf jenes, dem Authier/Lévy den Namen „kinetische Karte“ gegeben haben. „Die kollektive Intelligenz navigiert in einem sich bewegenden Universum aus Daten: eine kinetische Karte entsteht aus dieser Interaktion. … Die topologische Organisation dieses Raumes ist Ausdruck der Vielfalt der Beziehungen zwischen den Objekten oder Akteuren des Datenuniversums.“ (S. 192 f)
Kapitel Dreizehn
befragt die jeweils bevorzugten Objekte des Wissens. Im Raum der Waren sei es offenkundig die Produktion und Konsumtion derselben. Und im Raum des Wissens? Dieser Frage nähert sich Lévy durch eine Betrachtung der Informationswissenschaften. Durch die Informationstheorie, betont er dabei, habe man — auf Basis der Wahrscheinlichkeits-rechnung (eine Informationsmenge ist nach der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens definiert) — die quantitative Seite der Informationsproblematik fasslich machen können; doch habe man die qualitative Seite, nämlich die für Kommunikation unabdingbare Bedeutung (im weiten Sinn), bei der ‚Ereignis‘ und ‚Kontext‘ eine Rolle spielen, in irgendwie vergleichbarer Weise nicht in den Griff bekommen. Das Verstehen von Bedeutung sei allerdings Voraussetzung dafür, dass kollektive Intelligenzen sich selbst erkennen können, und dies wiederum die Voraussetzung, dass sie sich selbst hervorbringen. Solche Kenntnis sei oder werde jedenfalls zum bevorzugten Objekt des Wissens, das (in dem neuen Raum) aber nur „subjektiviert“, als Sich-selbst-Erleben von Menschen, entfalten könne.
Kapitel Vierzehn
arbeitet den eben bezeichneten Gedanken noch weiter heraus. Während im ersten Raum (Erde) das Wissen bei den Mitgliedern der blutsbandlichen Gemeinschaften verteilt sei, im zweiten Raum (Territorium) es konzentriert sei auf wenige, die das im Buch kanonisierte Wissen verstehen, im dritten Raum (Waren) das in Bibliotheken, Universitäten, Industriekomplexen gesammelte Wissen auf Heere von Spezialisten ausgeweitet sei, werde nun im vierten Raum (Wissen) die Wissensverteilung der ursprünglichen einfachen Verteilung in einer höheren Form ähnlich sein. Dies ist nach Lévy deshalb möglich, weil (durch Michel Serres) im Grundsatz eine essentielle Einfachheit im Umgang mit Wissen erkannt ist, die auf dem Prinzip der Implikation beruht: „Das Subjekt impliziert das Objekt.“ (S. 219) Das heißt — und Lévy arbeitet hier selbst mit solcher Bildsprache —, der Wissen produzierende Mensch oder das Subjekt ‚taucht ein‘ in das Meer der Datenströme und hinterlässt in einem angesteuerten Kontext eine Spur, die, sobald das Subjekt wieder ‚aufgetaucht‘ ist, zum Wissensobjekt geworden ist; dabei spielt es keine Rolle, wie oft und von wie vielen dieser immer wieder andersartige Vorgang (weil Subjekt wie Objekt in dauernder Veränderung begriffen sind) wiederholt wird.
Kapitel Fünfzehn
müht sich mit dem Beziehungsgeflecht der (vier) Räume miteinander. Es ist das abstrakteste Kapitel, und kein Wunder; denn hier geht es nicht nur darum, was uns die verschiedenen Bedeutungswelten bedeuten, sondern darum, was diese Bedeutungswelten sich gegenseitig bedeuten. Gewissermaßen Symbolismus im Quadrat. Zudem macht sich hier die Schwierigkeit in besonderem Maße geltend, dass Lévy die bezeichneten Räume sowohl als nacheinander entstehend wie auch als nebeneinander bestehend fassen muss. Er selbst erläutert diese Schwierigkeiten der sich überlagernden Gesellschaftsverhältnisse durch eine Analogie aus dem individuellen Leben: „Die Zeit vergeht nicht wirklich, die emotionalen und existentiellen Konstellationen liegen ‚auf Eis‘, vergraben im Gedächtnis, aber wirken ständig und können jederzeit aktiviert werden.“ (S. 224)
Eingelagert in die Ausführungen sind Gedanken „auf dem Weg zu einer politischen Philosophie“, wie der Untertitel des Kapitels besagt. Im Kern dreht sich diese Philosophie um die (aktuelle) Frage, wie der Aufbruch in eine Demokratie, wo „Initiative und Experiment ihren Platz haben“, ohne Friktionen geschehn kann. Nicht-revolutionär im Sinne irgendwelcher Ermächtigungen, weil solches nur neue Unterdrückung nach sich ziehen würde — so die Programmatik. Gebaut wird auf die Kraft der Gedanken der „kollektiven Intelligenz“, die sozusagen alles berühren kann ohne dabei weh zu tun. Zugleich artikuliert sich eine nicht undeutliche Hoffnung: „Und in den Waren kommt der Verdacht auf, dass sich in einem anderen Raum eine noch unbekannte Ökonomie entfaltet — eine Ökonomie, die sie nie verstehen werden: unabhängig vom Kapital, der Herrschaft des Dollars entzogen, anderen Prinzipien gehorchend.“ (S. 235 f)
Epilog
Nachgeschickt wird noch eine Betrachtung zur Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen, in der die Kategorien des Faktischen, des Machbaren, des Möglichen, des Unmöglichen und des Unvorstellbaren maßgeblich sind. Das Verhältnis dieser Kategorien sei nicht zu denken als Abstufungen auf einer linearen Skala, sondern als „autopoietische Spirale“, das bedeutet: Wenn eine Grenze, z.B. die des Faktischen, sich durch (intelligentes) Handeln verschiebt, wird eine andere Grenze, z.B. die des Machbaren, noch weiter mitverschoben, undsofort, so dass sich die Verhältnisse selbst dynamisieren.
Es werden dann noch einige Orientierungen für das „Projekt der kollektiven Intelligenz“ formuliert:
— Getragen sei es von einer Ethik des Besten (nicht etwa einer von Gut und Böse), was praktisch immer das Bestmögliche bedeute.
— Ziel sei immer das Erleben des Glücks größerer Freiheit (nicht etwa das Aufschieben dieses Glücks in irgendeine Zukunft).
— Gebraucht werde kein Feindbild: „Die kollektive Intelligenz … bekämpft die Macht nicht, sondern geht ihr aus dem Weg.“ (S. 248)
Lévy nennt seinen Epilog „Reise nach Knossos“. Dessen Paläste stehen für eine unbesiegte, aber durch Naturgewalten untergegangene Kultur, die minoische, eine friedfertige und anmutige.
02.10.2001; MF