Glaser, Wilhelm R.: Wieviel Virtualisierung verträgt der Mensch? – Folgerungen aus der Telearbeitsforschung

Glaser, Wilhelm R.: Wieviel Virtualisierung verträgt der Mensch? Folgerungen aus der Telearbeitsforschung, in: Barthel, Jochen / Fuchs, Gerhard / Wolf, Hans-Georg (Hg.): Technikfolgenabschätzung zur Informations- und Kommunikationstechnik. Workshop-Dokumentation. Arbeitsbericht der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg Nr. 131/Juni 1999, S. 31-38. ISBN 3-934013-60-3; ISSN 0945-9553. 15,00 DM.

Themen: Alternierende Telearbeit, Arbeit und Freizeit, Betriebspsychologie, soziale Isolierung, systemische Perspektive, Virtualisierung und Substitution sozialer Beziehungen, Zeitsouveränität.

Abstract
Ausgehend von prinzipiellen Überlegungen zur Virtualisierung von Sozialbeziehungen in einer systemisch-theoretischen betriebspsychologischen Perspektive, formuliert der Autor Thesen zur Substituierbarkeit von Medien sowie Ratschläge für den Implementierungsprozess von (alternierender) Telearbeit.

Inhaltsverzeichnis
1. Grundsätzliche Überlegungen zur Virtualisierung von Sozialbeziehungen
2. Ergebnisse der Studien zur Telearbeit
3. Zusammenhang zur Technikfolgenabschätzung
4. Diskussion

Bewertung
Diese Synopse von Forschungsergebnissen des Verfassers ist eine Intervention sowohl gegen kulturpessimistische wie technikeuphorische Positionen. Als einführender Überblick geeignet.

Inhalt

1. Grundsätzliche Überlegungen zur Virtualisierung von Sozialbeziehungen
In seinen „grundsätzlichen Überlegungen zur Virtualisierung von Sozialbeziehungen“ sieht Glaser den Menschen als System, das einer Umwelt gegenübersteht. Wahrnehmung („Input-Funktionen“) und Wirkungsmöglichkeiten in die Außenwelt (Motorik) vergleicht er mit der klassischen Rechner-Architektur. Die „Kulturfähigkeit des Menschens“ beruht demnach auf seiner Fähigkeit „innere Weltmodelle“ auch nach außen zu verlagern und „äußere Weltmodelle“ sowie symbolische Gegenstände zu bilden und sich dabei externer Speicher zu bedienen. Die unbegrenzte Fähigkeit und Eignung zur Virtualisierung ergibt sich zum einen aus der „Architektur der menschlichen Kognition“ (Herbert Simon), zum anderen aus dem Verlauf der Geschichte der Verwendung von Symbolen. Er unterscheidet historisch die Entwicklung von der (prähistorischen) bildlichen zur sprachlich-symbolischen Phase bis hin zur heutigen mit modernen Medientechniken verfügbaren Fähigkeit der Erzeugung naturgetreuer Wahrnehmungserlebnisse. Gemäß der „Grundstruktur jeder Mediennutzung“ schiebt sich zwischen Objekt und Außenwelt eine unsichtbare Informationsverarbeitungskette und erzeugt Prozesse der Wahrnehmung im Gehirn.
Ausgehend von der prinzipiellen „Medienfähigkeit des Menschen“ referiert Glaser verschiedene Substitutionsthesen. Er verwirft die „utopische“ „universelle Substitutionsthese“ und favorisiert die sogenannte Media-Richness-Theorie, wonach die Medienwahl als optimale Passung zwischen sozialer Präsenz und Strukturiertheit der Kommunikation erfolgt. Gegenüber der Substitutionsannahme verweist er auf die Synergien zwischen Mediennutzung und Face-to-Face-Kommunikation (z.B. Reisen und Telefonieren), die in eine funktionale Aufteilung der Nutzung unterschiedlicher Kommunikationsmedien mündet. Das heißt, technisch vermittelte Kommunikation wird auch künftig keine Face-to-Face-Kontakte ersetzen, vielmehr erwartet er einen zielorientiert realisierten Mix im Sinne einer subjektivien Optimierung. Dabei folgen die Veränderungen nicht dem rasanten Tempo technischer Neuerungen, sondern der Geschwindigkeit sozialer Lernprozesse.

2. Ergebnisse der Studien zur Telearbeit
Anhand einer Studie zur mobilen Telearbeit im Vertrieb eines Computerherstellers verweist der Autor auf die Funktion des Büros als Kommunikationszentrum, den verbesserten Kommunikationsfluß und gestiegene Kontakte sowie den gestiegenen Anteil an Zeit, der zuhause bzw. beim Kunden verbracht werden konnte.
Die zweite Studie über alternierende Telearbeit in einem Forschungsinstitut für Informationstechnik bestätigt Glasers These, wonach „Face-to-Face-Kontakte weiterhin wichtig“ sind. So werden die Face-to-Face-Kontakte nicht substituiert, sondern auf die Arbeitstage im Büro verschoben. Wenn technische Entwicklungen und menschliche Bedürfnisse in einer systembezogenen Weise verbunden werden, können Wünsche nach mehr Zeitsouveränität und Selbstgestaltung befriedigt werden.

3. Zusammenhang zur Technikfolgenabschätzung
Glaser verneint für alternierende Telearbeit Befürchtungen über die Verkümmerung sozialer Kontakte oder besonderer Kommunikations- und Führungsprobleme. Für eine optimale Implementierung von Telearbeit kommt es in einer systemischen Perspektive auf das Mischungsverhältnis der Berücksichtigung technischer (Mediennutzung) und menschlicher Komponenten an.

4. Diskussion
Der Verfasser warnt vor einem naiven Substitutionsbegriff. „Social Awareness“ (soziales Bewußtsein) könnten Medien nicht garantieren. Er prognostiziert, daß auch die noch im Experimentalstadium existierenden technischen Neuerungen „in absehbarer Zeit“ keine volle soziale Präsenz mittels elektronischer Medien herstellen werden.

16.01.2001; KS