Der Prozess der Virtualisierung

Der Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft ist in den reichen Ländern des Westens in vollem Gange und erfasst inzwischen auch die Entwicklungsländer. Nur ein paar unterentwickelte Gebiete der Welt verharren noch in vorindustriellen Zuständen.

Das heißt aber, dass immer mehr Menschen in immer weiteren Regionen der Welt die Informationstechnologie nützen, um sich zu informieren, sich zu orientieren, zu lernen, zu arbeiten, zu kaufen oder zu tauschen, sich zu vergnügen oder sich kurieren zu lassen, kurz: um zu leben! Die Informationstechnologie ist zu einem Teil des menschlichen Lebens geworden, der nicht mehr wegzudenken ist, ohne die Lebensumstände aller Menschen nachhaltig zu verschlechtern. Damit entfernen wir uns täglich mehr von der Realität Rousseaus mit ihren Wiesen und Wäldern und bewegen uns hinein in die virtuelle Welt der Computer und der Kommunikationsnetze.

Dieser Prozess der Virtualisierung ist nicht aufzuhalten, und er sollte auch nicht aufgehalten werden, weil sonst die Rationalisierung gefährdet wird – mit allen negativen Folgen. Wir müssen die Veränderungen der Lebensumstände durch den Einsatz der Informationstechnologie vielmehr annehmen und diese so nützen, dass sie nicht nur die erforderliche Rationalisierung sichert, sondern zugleich und in höherem Maße als bisher die Humanisierung fördert. Wir wollen weiterhin in Wäldern und auf Wiesen leben, aber zusätzlich Netze und Computer als Werkzeuge nutzen.

Kernproblem „Führung“

Was die „Humanisierung“ fördert, ist zwar in den verschiedenen Epochen und Regionen der Welt verschieden, für unsere Zwecke genügt es aber zu wissen, dass sich nicht nur ein Hungender in der Dritten Welt „humanere“ Verhältnisse vorstellen kann als die, in denen er leben muss. Dasselbe gilt für einen vergleichsweisen reichen Mitteleuropäer. Was beide trennt ist die Möglichkeit, die Verhältnisse aus eigener Kraft ändern zu können. Hier in Mitteleuropa wird die „eigene“ Kraft durch eine Vielzahl von Einrichtungen unterstützt, die im Laufe der Zeit zum Zwecke der Problembewältigung geschaffen wurden. So ist eine arbeitsteilige Organisation entstanden, die die Potentiale der Einzelnen bündelt und verstärkt und eine koordinierte Leistung hervorbringt, die weit über der liegt, die ein Einzelner zu schaffen in der Lage wäre.

Es ist also nicht die Arbeitsteilung allein, sondern auch und vor allem die Koordinierung der Anstrengungen aller, die eine Gesellschaft technisch, wirtschaftlich und sozial voranbringt. Wohin – das ist eine Frage der Führung, die damit zum Kernproblem der Humanisierung wird. Wenn die „zielorientierte soziale Einflussnahme zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben“ versagt oder in die falsche Richtung zielt, wird es den Menschen schlechter gehen als bei einer Führung im Sinne der Humanitas. Es ist also vor allem für eine gute Führung zu sorgen.

In virtuellen Organisationen, wie sie überall entstehen und sich ausbreiten, tritt aber ein neues Problem auf: die Reduzierung der persönlichen Kontakte zwischen den Führenden und den Geführten. Wie sollen Menschen an gemeinsamen Zielen arbeiten, wenn sie sich kaum noch face-to-face begegnen? Welche Herausforderungen entstehen hieraus für Mitarbeiter und Führungskräfte, welche Führungsmethoden und -verfahren sollen angewendet werden? Kann auf Führung vielleicht ganz oder wenigstens teilweise verzichtet werden? Löst die Zusammenarbeit von Kollegen, die Arbeit im Team, die alten Unterstellungsverhältnisse überhaupt auf? Trifft Wissensmanagement an die Stelle überholter Führungsmodelle? Und schließlich: sind Führungsfunktionen programmierbar?

Telemanagement

Bevor auf diese Fragen geantwortet werden kann, müssen die miteinander vermengten Begriffe „Führung“ und „Management“ sinnvoll unterschieden werden. Es handelt sich nicht nur um Übersetzungen vom Deutschen ins Englische oder umgekehrt, sondern um verschiedene Sachverhalte, die immer wieder durcheinander gebracht werden, nämlich um die Führung von Menschen einerseits (engl. „leadersship) und um die sachorientierte Leitung von Prozessen (engl. „control“). Management umfasst demzufolge „leadership“ und „control“. Deshalb empfiehlt es sich, auch im Deutschen drei Begriffe zu verwenden, nämlich:

  • Führung für die personenorientierten Aufgaben des Managements
  • Leitung für die sachorientierten Aufgaben des Managements und
  • Management als Zusammenfassung beider Aufgaben.

In diesem Sinne ist Tele-Management eine sach- und personenorientierte Management-Aufgabe. Die Vorsilbe „tele“ bringt zusätzlich zum Ausdruck, dass dezentrale Arbeitsprozesse und Telemitarbeiter gemeint sind, die (nur) über Telemedien an die Management-Zentrale angebunden sind. Mit der zu erwartenden, weiteren Diffusion der Telearbeit in ihren verschiedenen Formen, zu denen insbesondere auch die mobile Telearbeit zählt, ist auch eine Ausbreitung des Telemanagements zu erwarten.

Die Bedeutung des Telemanagements wird also steigen, zumal seine Methoden und Verfahren auch bei zentraler Arbeitsleistung, also in der noch immer zahlenmäßig weit bedeutenderen Büroarbeit zunehmend angewendet werden. Die informationstechnologischen Hilfsmittel „Netz“ und „Computer“ stehen in beiden Fällen im Mittelpunkt der Organisation, so dass wir von elektronischem Management oder E-Management sprechen können. In diesem Sinne ist Telemanagement das E-Management für dezentrale Arbeitseinheiten.

Was die beiden speziellen Management-Begriffe voneinander unterscheidet, ist die personale Seite des Managements, die persönliche Anwesenheit im Büro, der Face-to-face-Kontakt von Mitarbeitern und Führungskräften. Er ist beim E-Management in ähnlicher Weise gegeben wie in der Büroarbeit, während er bei Telearbeit weitgehend entfällt und – soweit notwendig – organisiert werden muss.

E-Management

Wenn wir von Management sprechen, meinen wir nicht die ausführenden Arbeiten, die von Mitarbeitern wahrgenommen werden, also die operativen Anwendungen der Informationstechnologie in allen Zweigen der Wirtschaft und Verwaltung. Sie werden durch die sog. ERP-Systeme, d.h. durch Unternehmenssoftware mehr oder weniger weitgehend abgedeckt bzw. unterstützt.

Mit E-Management wird hingegen auf die elektronische Unterstützung des Managements bei seinen spezifischen Aufgaben der Planung, Steuerung und Kontrolle von Prozessen und seinen Informations- und Koordinationsfunktionen in Bezug auf die Mitarbeiter hingewiesen. Die Software ist auf diesen Gebieten zwar nicht so weit verbreitet wie bei den Anwendungen selbst. Aber die CSCW (computer supported cooperative work), d.h. die computerunterstützte Zusammenarbeit mittels Konferenz-, Workflowmanagement- und Groupware-Systemen sowie durch eine Fülle weiterer Hilfen, entwickelt sich doch so rasant, dass auch hier von einer Rationalisierung durch die IT gesprochen werden kann.

Allerdings ist es nicht die Software allein, die das zustande bringt. Die modernen Geräte zur multimedialen Informationsverarbeitung leisten einen entscheidenden Beitrag, ohne den z.B. Telearbeit auf wenige, relativ autarke Arbeitsprozesse begrenzt bliebe. Es ist also die Kombination von Hard- und Software, die zur immer weitergehenderen Programmierung der Leitungsfunktion führt. Und es ist festzustellen, dass Manager ihren Leitungsaufgaben durch Computerunterstützung sehr viel besser nachkommen können, als ohne diese. Werden auch Manager nach und nach durch „das System“ ersetzt?

Das Fragezeichen steht mit Recht hier, denn bisher haben wir immer nur vor Sachaufgaben und sachlichen Informationen gesprochen. Unsere Anwendungssysteme sind aber soziotechnische Systeme, Mensch – Maschine – Systeme, und vom Menschen ist noch nicht gesprochen worden. Er bringt mit seinen Verhaltensweisen, Motiven und Emotionen völlig neue Faktoren ein, die alles andere als leicht zu virtualisieren sind. Im nächsten Schritt wollen wir deshalb die Führungsaufgabe selbst betrachten, die ja nicht zuletzt Menschenführung bedeutet, um zu sehen, wie weit diese innerhalb oder außerhalb der Grenzen der Programmierbarkeit liegt.

Führung von Menschen – durch Menschen

Die Kernfrage der Programmierbarkeit von Führungsfunktionen kann dahingehend beantwortet werden, dass nach dem gegenwärtigen Stand der informationstechnologischen Umsetzung zwar große Teile der Leitungsebene ebenso programmierbar sind wie die Ebene der realen Anwendungssysteme. Soweit die eigentlichen Führungsfunktionen betroffen sind, gelangen aber kaum Programme zum Einsatz, und auch die Telemedien treten in den Hintergrund. Statt dessen überwiegt nach wie vor das persönliche Gespräch zwischen Führenden und Geführten.

Noch gilt also: Man in control – und so sollte es auch sein! Nur dann kann von einer humanen Nutzung der Informationstechnologie die Rede sein. Aber gibt es nicht Situationen, in denen es für den Menschen von großem Vorteil wäre, wenn der Computer entschiede, sofort und ohne Rückfrage, z. B. im Sicherheitsbereich? Wenn es auf höchste Präzision und blitzschnelle Reaktion ankommt? oder in der Medizin? Es wird solche Situationen geben, auch solche, die uns Menschen weniger nützen. Die Cyber-Warfare, das Dilemma moderner Kriege, ist wohl das Schlimmste, was wir uns hier vorstellen müssen. Da ist es nicht allein der Computer, sondern ein ganzes Arsenal von digitalen Werkzeugen und Geräten sowie komplexen Informations- und Kommunikationsnetzen, die für uns handeln und entscheiden!

Was uns vor allem Sorge machen muss, ist die unglaublich schnelle Vernetzung der digitalen Informationssysteme im Internet. Zunächst war es nur ein Versuch, den Wissensaustausch von Wissenschaftlern zu verbessern. Aber dieser Versuch gelang über Erwarten gut: Das Internet besteht derzeit aus Tausenden von Netzen mit Millionen Netzknoten (Computern), die Milliarden Web-Sites verwalten, und dieses Konvolut wächst unaufhörlich weiter. Es schickt sich an, das gesamte Wissen der Menschheit aufzunehmen und zur Nutzung bereitzustellen. Noch überwiegen die Kinderkrankheiten des Systems: Man muss lange suchen, um die Informationen zu finden, die Wissen (beim Menschen) erzeugen. Aber schon wächst diesem – an sich nicht intelligenten – Meta-Hirn ein Körper hinzu, der eines nicht mehr so fernen Tages wahrhaft allgegenwärtig sein wird. Gemeint sind die zahllosen Embedded Systems, die bald in allen Gegenständen unseres täglichen Lebens vorhanden sein und dort ein mehr oder weniger unauffälliges, informationelles Leben führen werden. D.h. sie werden Zustände messen und melden, sie werden identifizieren und mit uns kommunizieren, und sie werden uns denunzieren, und zwar nicht nur bei Menschen, sondern auch und vor allem bei Maschinen. (Vgl. Norbert Hering: Über die Grenzen des Verstehens zwischen Gehirn und Prozessor, Düsseldorf 2002).

Hier entsteht offenbar eine neue Spezies, die dem Leben gleichgültig und keineswegs etwa freundlich gegenübersteht: die digitale Spezies. Haben wir gegenüber einem zentralgesteuerten, mit Lichtgeschwindigkeit rechnenden, prüfenden und entscheidenden, sich selbst reproduzierenden und lernenden Computernetz überhaupt noch eine Chance, die Führung beizubehalten? Wird das digitale Prinzip letzten Endes doch über das analoge Prinzip des Lebens triumphieren?

Es wird Zeit, die alte philosophische Frage

Was ist der Mensch?

neu zu stellen und für das Informationszeitalter gültig zu beantworten.