Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität

Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999. 315 Seiten.

Themen: Auswahl, Meta-Organisation of Information, Komplexität, Rückkopplung, Sensitivitätsmodell.

Abstract
Der Biokybernetiker, Experte für Umweltverträglichkeit von Systemen (aller Art), stellt ein Verfahren zur Reorganisation komplexer Systeme vor.

Inhaltsverzeichnis
I Was es zu vermeiden gilt

II Was unsere Situation verlangt

III Das Sensitivitätsmodell

IV Der neue Weg zu nachhaltigen Strategien

Bewertung

Eine gut erklärte Einführung in modernes Systemdenken.

Inhalt

I Was es zu vermeiden gilt
„Der Nutzen von Information liegt eindeutig in der Auswahl, nicht in der Fülle, in ihrer Relevanz, nicht im Übertragungstempo.“ Frederic Vester begründet diese Ansicht in typischer Manier mit der natürlichen Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Es gibt, führt er aus, einen „Flaschenhals der Datenreduktion“ derart, dass bei normaler Gehirnaktivität eine Daten-menge der Größenordnung 109 Bits pro Sekunde die linke Gehirnhälfte erreicht, diese dann in der Mitte auf die Menge von etwa 102, also ein Zehnmillionstel, durch Auswahl und Vor-verarbeitung reduziert wird, und dann in der rechten Gehirnhälfte durch Assoziationen mit schon vorhandenen Inhalten auf eine Menge von rund 107 Bits angereichert wird. (S. 23 f) Aus derartigen Naturvorgängen sollten wir, so Vesters Credo, auch für die Organisation unseres Wissens lernen.
Den Umgang mit komplexen Systemen betreffend, werden (im Anschluss an experimentelle Untersuchungen von Dörner) sechs typische aus der Zeit der „Mega-Institutionen“ geerbte Fehler, die man tunlichst vermeiden sollte, beschrieben.
(1) Falsche Zielbeschreibung: typischerweise durch Ausrichtung auf die Lösung von Einzel-problemen, anstatt die Erhöhung der Lebensfähigkeit des betreffenden Systems anzugehen;
(2) Unvernetzte Situationsanalyse: Sammlung von Informationen über eine Situation, ohne dass sie ein Gefüge ergeben;
(3) Irreversible Schwerpunktbildung: ein möglicherweise richtig erkannter Schwerpunkt wird zum Favoriten, über den andere Aufgaben vergessen werden;
(4) Unbeachtete Nebenwirkungen: zielstrebiges Vorgehen ohne Beachtung von Neben-wirkungen (kein „Policy-Test“, d.h. Wenn-Dann-Abschätzungen);
(5) Tendenz zur Übersteuerung: nachdem ein zögerliches Eingreifen in einem System nichts bewirkt hat, überdimensioniertes ‚Reinhauen‘;
(6) Tendenz zu autoritärem Verhalten: typischerweise bedingt durch das Verlangen, zu Macht und Ansehen aufgrund der Größe eines Projekts zu gelangen, anstatt durch dessen bessere Funktionsfähigkeit; als weitere Bedingung wird genannt die willkürliche Festlegung von Sollwerten, anstatt den Selbstregelungskräften eines Systems zu vertrauen.

II Was unsere Situation verlangt
Unsere Situation (die Conditio humana) verlangt laut Vester generell „Schulung in Mustererkennung, um komplexe Systeme schon mit wenigen Ordnungsparametern zwar unscharf, aber gleichwohl richtig erfassen zu können.“ (S. 99) Als wirkungsvollen ‚Trick‘, was den Umgang mit komplexen Systemen anlangt, hebt er das „Umstülpen“ (ein Escher-Prinzip) hervor: Man steigt aus dem System heraus, schaut von außen nach innen, und untersucht vor allem das eigene System als einen Organismus in einem größeren Zusammenhang; wichtige Fragen sind dann die nach kritischen und nach puffernden Bereichen, mit welchen Mitteln sich das System steuern lässt und mit welchen nicht. Durch solches Umstülpen ergäben sich fast automatisch neue Entscheidungshilfen und strategische Hinweise.

Vester beschreibt dann die Steuerungsproblematik vom biokybernetischen Ansatz her: „Wie in der belebten Natur sollte weder eine deterministische Vorprogrammierung noch eine zentrale Steuerung notwendig sein. Der Steuermann ist Teil des Systems und beschränkt sich auf die Impulsvorgabe zur Selbstregulation und das >Antippen< von Wechselwirkungen.“ (S. 110) Weiter berichtet der Autor von seiner Jahrzehnte langen experimentellen Forschung mit biologischen Systemen, die in ihm den Entschluss hat reifen lassen, den vorhandenen Wissensstand danach zu durchforsten, was von den Erkenntnissen des Fachgebiets auch für die Lösung gesellschaftlicher Probleme von Nutzen sein könnte. Besonders fasziniert habe ihn die folgende Tatsache: „Mit ihrem gewaltigen jährlichen Umsatz von vielen hundert Milliarden Tonnen Material weist die Biosphäre dennoch ein Nullwachstum an Biomasse auf und kommt damit seit Äonen über die Runden. Und dies mit einem beneidenswerten Ertrag, einem Höchstmaß an kreativer Entfaltung und einer Fülle von Lebensformen. Wie kommt es dazu? Die Antwort lautet: Weil das Management der Natur eine Handvoll kybernetischer Regeln befolgt — uralte Prinzipien, die gleichzeitig hochaktuell sind.“ (S. 113) Es folgt eine Erläuterung dessen, was Vester die „acht Grundregeln der Biokybernetik“ nennt.
1. Negative Rückkopplung muss über positive Rückkopplung dominieren.
Positive Rückkopplung bewirkt Selbstverstärkung der Dinge, das jedoch durch das Prinzip der negativen Rückkopplung (Wolf frißt viele Hasen — wird zu dick — kann deshalb keine Hasen jagen — wird dünner —kann deshalb wieder mehr Hasen jagen) eine entschiedene Grenze gesetzt sein sollte. „Selbststeuerung ist das wichtigste Organi-sationsprinzip eines Teilsystems, sobald es innerhalb des Gesamtsystems überleben will. (S. 129)

2. Die Systemfunktion muss vom quantitativen Wachstum unabhängig sein.
Als Beispiel, wie diese Unabhängigkeit in der Natur besteht, nimmt Vester wiederum das menschliche Gehirn; das Wachstum seiner ‚Hardware‘, die Neuronen-Verdrahtungen, ist schon wenige Monate nach der Geburt praktisch abgeschlossen. Erst dann kann die steuernde Funktion, das Denken, beginnen.

3. Das System muss funktionsorientiert, nicht produktorientiert arbeiten.
Auf eine (tatsächlich ausgearbeitete) Überlebensstrategie für das System ‚Ford Deutschland‘ bezogen heißt dies, dass die Funktion des Unternehmens sich nicht im Autobau erschöpfen darf, sondern eigentlich das Verkehrsgeschäft ist.

4. Nutzung vorhandener Kräfte nach dem Jiu-Jitsu-Prinzip.
Die Nutzung gefährlicher Kräfte — beim Judo oder Aikido werden die Kräfte des Gegners umgelenkt — kann weit effektiver sein als deren direkte Bekämpfung.

5. Mehrfachnutzung von Produkten, Funktionen und Organisationsstrukturen.
Hohe Funktionalität besteht darin, ‚mehrere Fliegen mit einer Klappe zuschlagen‘.

6. Recycling: Nutzung von Kreislaufprozessen.
Wiederum dem Vorbild der belebten Natur folgend, die eigentlich keinen Abfall kennt, sollte die Abfallumwandlung ihren hohen Stellenwert zurückerhalten.

7. Symbiose. Gegenseitige Nutzung von Verschiedenartigkeit durch Kopplung und Austausch.
Symbiose im biologischen Sinn heißt Zusammenleben verschiedener Arten zum gegenseitigen Nutzen. Gleichartige Einheiten (Monokulturen) haben den großen Nachteil, dass in ihrer Binnenstruktur nichts ausgetauscht werden kann.

8. Biologisches Design durch Feedback-Planung.
Biologisches Design folgt äußeren und inneren Rhythmen, harmonisiert Systemdynamik. Produkte, Verfahren und Organisationsformen sollten im Hinblick auf mögliche Rückmeldungen aus der Umwelt eines Systems geplant werden.

Vester versteht die gegeben Regeln im Prinzip als universell. Praktisch angewandt werden könnten sie am Leichtesten nach der Art einer Checkliste.
Speziell für Wissenssysteme bedeutsam sind Gesichtspunkte, die Vester im Anschluss an Masao Maruyama („Meta-Organisation of Information“) benennt. Danach können Informationen, wie sie etwa in Bibliotheken vereint sind, nach drei sehr verschiedenen Arten unterschieden werden:

* Klassifizierungs-Information (zu welcher Menge A gehört a?)
* Relations-Information (Beziehung von Informationen zueinander?)
* Relevanz-Information (für wen oder wofür haben Informationen Bedeutung?)

Um die Komponenten eines komplexen Systems richtig wiedergeben zu können, müssen nach Vester (im Anschluss an die ‚Fuzzy logic‘ von Lotfi Zadeh) drei Bedingungen erfüllt sein;
— man muss die Auswahl der Komponenten richtig treffen,
— die Beziehungen zwischen ihnen erfassen,
— sie zu einem Muster (‚Fuzzy set‘) miteinander vernetzen.

III Das Sensitivitätsmodell
Hier geht es nun um das Vester’sche „Sensitivitätsverfahren“, das eine Hilfe zur Planung — sie ist nach Vester letztlich immer die gewollte Veränderung bestehender Systeme — darstellt; dabei wird unter ‚Sensitivität‘ eine über ‚Sensibilität‘ hinausgehende Empfindsamkeit eines Organismus verstanden, welche die inneren Steuerungsabläufe eines Systems registriert. Das Verfahren ist rekursiv, d.h. alle seine Ergebnisse sind für Aktualisierungen offen, und findet in den folgenden vier Schritten statt:
(1) Es werden zunächst (wie bei einer Anamnese von Patientendaten) die systemrelevanten Größen erfasst, und zwar mit dem Ziel, diese auf möglichst wenige Schlüsselvariablen zu reduzieren.
(2) Dann werden (Analogie: Diagnose) die Wechselbeziehungen in dem jeweils vorliegenden System untersucht und graphisch, als ‚Muster‘, dargestellt. Vester betont, dass Sollwerte hier nicht wie in der klassischen Wirtschaftskybernetik von außen gesetzte, sondern system-immanente sind.
(3) In diesem Schritt findet eine Beurteilung statt: wie das System im Hinblick auf die Optimierung seiner Lebensfähigkeit arbeitet. Wichtige Kriterien dabei sind Selbstregulation, Flexibilität, Steuerbarkeit. Im Übrigen können die acht Grundregeln der Biokybernetik (s.o.) als Checkliste verwandt werden.
(4) Aus der Beurteilung folgt (ähnlich wie bei einem Therapieplan) eine Strategie zur Optimierung der Lebensfähigkeit.

Das Sensitivitätsverfahren nach Vester ist als „universell anwendbar“ angelegt. Faktisch ist es (durch seine Forschungsfirma) in etlichen Bereichen angewandt worden, so in der Verkehrsplanung oder in der Weiterbildung. Erwähnt wird auch eine Schweizer Fach-hochschule, Oensingen bei Solothurn, wo die Anwendung des Verfahrens zur Kon-zeptionierung einer neuartigen Ingenieursausbildung geradezu zu einer „neuen Lernkultur“ geführt habe. Als ein besonderes Problem, das in verschiedensten Bereichen immer wiederkehrt, spricht Vester die zum Schritt (1) bzw. zur Aktualisierung der Ergebnisse von Schritt (1) gehörende Reduktion der Variablen an. Dazu schlägt er die Fragen vor nach den Beteiligten in einem sich ändernden System, nach deren Tätigkeiten, nach deren Befindlichkeit, nach dem Raum, in dem was wo passiert, nach der Umweltbeziehung des Systems (Ressourcen), nach den inneren Abläufen (Kommunikationswege) und nach der inneren Ordnung zur Regelung der Angelegenheiten. — Ein weiteres Problem, dem Schritt (2) zugehörig, ist die Darstellung der „unsichtbaren Fäden“ zwischen den gegeben Komponenten (Variablensatz); hierzu seien im Rahmen des Sensitivitätsmodells, meist aus konkreten Anforderungen heraus, spezielle „Tools“ entstanden, die sogenannten SM-Tools. Hierzu zählen Regelkreise, mit denen positive und/oder negative Rückkopplungseffekte dargestellt werden können. Auch die komplexeren Teilszenarien gehören dazu, deren Funktionen Vester mit der von Organen (in einem Organismus) vergleicht. Ein weiteres, auf einer als komfortabel deklarierten Benutzeroberfläche anklickbares Tool ist die noch komplexere Simulation, durch die man etwa herausfinden kann, ob in einem Systemteil positive oder negative Rückkoppelungen dominieren.

IV Der neue Weg zu nachhaltigen Strategien
Im Schlussteil legt Vester einige Züge seiner Lebensarbeit dar, auf die er besonderen Wert legt. „Ein Sensitivitätsmodell nimmt also keine Entscheidungen ab. Es ist Denkhilfe und nicht Denkmaschine oder Denkersatz.“ (S. 254) Es sei ein begleitendes Werkzeug, mit dessen Hilfe man herausfinden kann, was mit wem wie verbunden werden muss, damit in einem gestörten System eine „spontane Ordnungsbildung“ stattfinden kann. Vorbild und unbestechliche Instanz in seiner Forschung seien erfolgreich sich selbst erhaltende Systeme der Natur. Am Ende (S. 295) zitiert er einen von dem großen Experimentalisten Francis Bacon stammenden Satz: „Wer die Natur beherrschen will, muss ihr gehorchen.“

03.10.2001; MF