Negri, Toni / Lazzarato, Maurizio et al.: Umherschweifende Produzenten – Immaterielle Arbeit und Subversion

Negri, Toni / Lazzarato, Maurizio et al.: Umherschweifende Produzenten — Immaterielle Arbeit und Subversion, ID Verlag Berlin 1998. 126 Seiten.

Themen: Dezentralisierung, General Intellect, immaterielle Arbeit.

Abstract
Vertreter der Autonomia Operaia, der sozialrevolutionären Strömung in Norditalien, diskutieren gegenwärtige Wandlungen der Arbeit.

Inhaltsverzeichnis
Inhalt (Auszug):
Vorwort (Boutang)

Autonomie und Separatismus (Negri)

Immaterielle Arbeit (Lazzarato)

Verwertung und Kommunikation (Lazzarato)

Bewertung
Anregende Gesichtspunkte zur Bestimmung der „immateriellen Arbeit“.

Inhalt

Einführend stellt Yann BOUTANG den fast schon legendären Antonio (Toni) Negri vor, den Vater der norditalienischen ‚Autonomen‘, der als solcher nach den Unruhen der 70er Jahre langjährig inhaftiert, als gewählter Abgeordneter des italienischen Parlaments freigelassen, dann geflüchtet war und (1997) 65-jährig in der Hoffnung auf eine allgemeine Amnestie seiner Mitkämpfer freiwillig ins Gefängnis zurückkehrte. „Verweigerung der Arbeit“, schreibt Boutang, sei einst die Parole der italienischen Subversiven gewesen, schon bevor die Krise der Lohnarbeit offen zutage trat. Und zeigen sich nicht, fragt er weiter, in den seither geschehenen Wandlungen Züge dessen, was Marx (in den „Grundrissen“, MEW 42, S. 600 ff) für eine Zeit der Automatisierung an der Schwelle zu einer neuen Ära antizipiert hat: dass nämlich der arbeitende Mensch neben den materiellen Produktionsprozess tritt und seine in der (reichlich vorhandenen) ‚Nichtarbeitszeit‘ gewonnenen Fähigkeiten im Verbund mit denen der Anderen —als „General Intellect“ — die entscheidende Produktivkraft zur Schaffung gesellschaftlichen Reichtums wird?
Unter solchen Verhältnissen müsse die „immaterielle Arbeit“ in den Vordergrund rücken, und tatsächlich könne, wie die Statistik und die Diskussion um diesen Begriff zeigt, die gegenwärtige Situation durch das Hervortreten dieser Art von Arbeit beschrieben werden. Nach Boutang sind es drei Kennzeichen, die den Bruch mit den bisherigen Industrieverhältnissen deutlich machen, (1) die Verlagerung der Quellen des Reichtums (von der Fließbandarbeit) zu konzeptionellen Tätigkeiten; (2) neuer Wert wird den Produkten (statt durch Verausgabung von Arbeitskraft an der Maschine) vorrangig durch eine kommunikative Art von Tätigkeiten hinzugefügt; (3) die bestimmenden Aktiva eines Unternehmens stecken (statt in Maschinenparks) in nichtmateriellen Werten wie Kenntnissen oder Kommunikationfähigkeiten. Das Hervortreten der immateriellen Arbeit, damit endet Boutang, scheint mit dem Verschwinden der Lohnarbeit bzw. der Arbeiterklasse in Zusammenhang zu stehen; doch müsse an einer Theorie der immateriellen Arbeit als Orientierungshilfe noch weiter gearbeitet werden.

Antonio NEGRI berichtet von den Umstrukturierungen einer von großindustrieller Produktion (Petrochemie um Porto Marghera) geprägten Region im italienischen Nordosten während der vergangenen Generation. Der dortige, in den 1930er und 40er Jahren neu aufgebaute Industriekomplex habe bis in die 60er Jahre mit etwa 30 000 Arbeitern eine Massenproduktion mit allen Merkmalen des „Fordismus“ entwickelt, bis dann Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre schwere Arbeitskämpfe ausgebrochen sind. In dieser Zeit setzte, wie Negri sich erinnert, eine Automatisierungswelle ein mit der Folge von massenhafter „Freisetzung“ von Arbeitskräften, und er erklärt als Dabeigewesener, was mit den betreffenden Leuten dann geschah.
Ausgestattet mit einem gewissen finanziellen Rückhalt aufgrund errungener Abfindungen bei den Entlassungen und einer in den Kämpfen erworbenen ‚autonomen‘ Haltung hätten die Betroffenen in der gleichen Region neue Chancen wahrnehmen können, weil hier gleichzeitig eine starker Trend der Dezentralisierung der örtlichen Industrie in Gang gekommen ist. So habe sich typischerweise auf hohem technologischen Niveau startende „Auslagerungen“ und ein „Unternehmergeist von unten“ getroffen, wodurch die Transformation der Region gekennzeichnet sei; wichtig in diesem Prozess sei gewesen, dass die Betroffenen sich in hohem Maße, vielfach auch mit örtlicher Unterstützung (Pfarreien, Sparkassen), zu unabhängig agierenden Kooperativen — Negri spricht von einer „neuen Figur des politischen Unternehmers“ — zusammengeschlossen haben.
Etwa seit Mitte der 80er Jahre habe jedoch die große Industrie, unterstützt von der Regierung, in der Region wieder Fuß fassen und Kontrolle ausüben können, auch indem diese große Industrie als Anbieterin von Dienstleistungen (Factoring, Bankservice, Consulting etc.) auftrete. Einem stabilen Kern von kleinen und mittleren Unternehmen sei es dennoch gelungen, ihre Unabhängigkeit zu wahren, weil sie sich direkt mit dem Weltmarkt verbinden konnten. Das Wichtigste ist für Negri am Schluss, „dass der Prozess des Zusammenwirkens politischer und sozialer, ökonomischer und kultureller Funktionen in der Tätigkeit des Produzenten unumkehrbar ist …“ (S. 36 f)

Von Maurizio LAZZARATO wird „immaterielle Arbeit“ thematisiert. Seit Anfang der 1970er Jahre habe eine große Transformation stattgefunden, dadurch gekennzeichnet, dass in manuelle Arbeit zunehmend ‚intellektuelle‘ Tätigkeiten eingeflossen sind. Diese Strukturveränderung in der großen Industrie habe zu einem merkwürdigen Paradox geführt: „Postfordistische Modelle“ hätten sich entwickelt, die sich (in Norditalien) einerseits auf das Scheitern von Arbeiteraufständen gründen, andererseits den Arbeitern ein vorher nicht gekanntes Maß an Verantwortung gebracht haben. Noch paradoxer ausgedrückt: der ‚Befehl‘ der Unternehmer an die Arbeiter laute jetzt ‚Seid Subjekte‘! Denn nicht mehr wie in „fordistischen“ Zeiten würden bloße Hände gebraucht, sondern der ganze Mann oder die ganze Frau mit ihrer jeweiligen Subjektivität und Verantwortung für von ihnen zu treffende Entscheidungen.
Den Grund für diese Entwicklung sieht Lazzarato darin, dass die Kommunizierbarkeit der Informationen, die fließen müssen, zum alles entscheidenden Metier geworden ist; insofern müsse die paradoxe Aufforderung genauer eigentlich heißen ‚Seid Subjekte der Kommunikation‘! Diese Situation bereite auch den Managern (und der Management-Wissenschaft) großes Kopfzerbrechen: „Einerseits müsen sie notwendigerweise die Autonomie und Freiheit der lebendigen Arbeit als einzige Möglichkeit anerkennen, um zu einer produktiven Kooperation zu kommen, und andererseits stehen sie vor der Notwendigkeit, die Macht, die der neuen Qualität der Arbeit und ihrer Organisation innewohnt, nicht aus den Händen zu geben — für das Kapital eine Frage von Leben und Tod.“ (S. 44)
‚Immaterielle Arbeit‘ steht für Lazzarato an der Schnittstelle eines neuen Verhältnisses von Produktion und Konsumtion; dieser neu entwickelten Arbeit falle die Aufgabe zu, Formen und Modalitäten der Kommunikation ständig neu zu schaffen, somit auch das Produzieren und Konsumieren zu verändern (siehe nächstes Kapitel). Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Lazzarato gewissermaßen mit Marx über Marx hinausgeht: Indem für den Italiener ‚immaterielle Arbeit‘ den gesamten Produktionszyklus umfasst, produziert sie ein gesellschaftliches Verhältnis (wie laut Marx die materielle Arbeit, unter Bedingungen der Industrie, das Kapitalverhältnis als spezifisches gesellschaftliches Verhältnis produziert). Diese Wandlungen haben für Lazzarato die Bedeutung einer „lautlosen Revolution“.

Im anschließenden Kapitel wird der „Zyklus immaterieller Produktion“ ins Auge gefasst, wiederum durch Maurizio LAZZARATO. Denn ihr, der immateriellen Produktion oder Arbeit, falle im gesamten Produktionszyklus (heute) eine strategische Rolle zu. Diese bestehe darin, dass Arbeit, wie sie in der Werbung, der Mode, beim Programmieren oder auch Organisieren stattfindet, einen produktiven Charakter bekommen hat; dadurch nämlich, dass in solcher Arbeit sowohl verwertbarer Wert als auch subjektive Bedürfnisse geschaffen werden. Durch immaterielle Arbeit werde gewissermaßen „die Produktion ‚produziert'“. Deshalb werde es da, wo solche Arbeit etwa als Dienstleistung fungiert, schwierig, Produktionsnormen festzulegen bzw. Produktivität zu messen.
Lazzarato stellt sich noch die Frage, wie man den „Produktionsprozess gesellschaftlicher Kommunikation“ beschreiben kann. Da traditionelle (ökonomische) Produktions- und Verwertungsmodelle das Wesentliche und Neuartige nicht fassen könnten, greift er zu einem Modell, das er „ästhetisch“ nennt. Als dessen Grundkategorien nennt er Autor und Publikum. Auch wenn (und das sind sie zunächst einmal) Autoren und Publika, man könnte insoweit auch von ‚Sendern‘ und ‚Empfängern‘ sprechen, in den kapitalistischen Produktionsprozess eingeschlossen sind, eines kann nach Lazzarato nicht unter das Kapital subsumiert werden: die (auf beiden Wegen) kreative Beziehung zwischen Autor und Publikum. Hier sucht, möchte ich interpretierend anmerken, der italienische Denker sozusagen die systematische Lücke, die doch noch ins Paradies hinter der kapitalistischen Produktionsweise führt.

16.11.2001; MF