Kleinberger Günther, Ulla / Thimm, Caja: Soziale Beziehungen und innerbetriebliche Kommunikation – Formen und Funktionen elektronischer Schriftlichkeit in Unternehmen

Kleinberger Günther, Ulla / Thimm, Caja: Soziale Beziehungen und innerbetriebliche Kommunikation: Formen und Funktionen elektronischer Schriftlichkeit in Unternehmen, in: Thimm, Caja (Hg.): Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet. Opladen/Wiesbaden 2000, S. 262-277. ISBN 3-531-13400-0. 59,90 DM.

Themen: Akzeptanz, Linguistik, soziale Beziehungen, Substituierung von Kommunikation, Unternehmenskultur und Betriebsklima, Virtualisierung, virtuelle Unternehmen.

Abstract
Der Beitrag geht am Beispiel betriebsinterner Mailkommunikation sowie von Interviews in Schweizer Unternehmen der Frage nach, ob und wie E-Mail in auf berufliche Interessen konzentrierter Kommunikation ein „Beziehungsmedium“ ist.

Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Elektronische Schriftlichkeit in der Netzkommunikation
2. E-Mailkommunikation in Schweizer Unternehmen
3. Schlußbemerkungen
Literatur

Bewertung
Methodisch problematisch ist das Vorgehen, qualitatives Interviewmaterial quantitativ auszuwerten. Andererseits kommt der beispielhaften Analyse hohe praktische Relevanz zu.

Inhalt

0. Einleitung
E-Mail ist „unstrittig zu einer der wichtigsten Formen der innerbetrieblichen Kommunikation geworden“. Dem damit verknüpften Forschungsdesiderat (Funktionen, Formen, Inhalte von E-Mail-Kommunikation) gehen die Autorinnen anknüpfend an die These vom „Beziehungsmedium“ (Wehner, Josef: Medien als Kommunikationspartner. In: Gräf, L. u.a. (Hg.): Soziologie des Internets. Frankfurt/M. u.a. 1997) nach.

1. Elektronische Schriftlichkeit in der Netzkommunikation
Die Autorinnen legen ihrer Annäherung das Konzept der Mündlichkeit im Duktus „elektronischen Schriftlichkeit“ („Ökonomie des Schreibens im Zusammenspiel mit technischen Geräten“, S. 263) zugrunde. Um das Neue zu erfassen, greifen sie die Differenzierung zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit auf, bei der jeweils zwischen Realisierungsebene und Konzeptionsebene von Schriftlichkeit und Mündlichkeit unterschieden wird. Realisierung meint das Medium, in dem Sprache realisiert wird. Konzeptionelle Mündlichkeit/Schriftlichkeit bezieht sich auf den Duktus, die Modalität der Äußerungen und kommunikative Strategien (z.B. Umgangs- versus Schriftsprache). Die Pole lassen sich als „abnehmend sprechbezogen“ und „zunehmend schreibbezogen“ bzw. „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“ charakterisieren (S. 264). Die Autorinnen wenden dieses Modell auf die betriebliche elektronische Schriftlichkeit an, weil „sie zwar in den Grundstrukturen der schriftlichen Geschäftskommunikation“ gleicht, doch zugleich eine Vielzahl von sprachlichen Phänomenen aufweist, die nicht den Normen der geschäftlichen Kommunikation entsprechen. Daher verstehen sie betriebliche E-Mails als „Formen möglicher konzeptioneller Mündlichkeit“ (S.264), die der Sicherung bzw. Etablierung von sozialen Beziehungen zwischen KollegInnen dienen.

2. E-Mailkommunikation in Schweizer Unternehmen
Ihre Ausführungen basieren auf einem umfangreichen Textkorpus von 606 E-Mails aus verschiedenen Firmen (Banken, Verlagen, Computerfirmen, medizinische Forschung und diverse Dienstleistungen) sowie auf 49 Interviews mit MitarbeiterInnen von Schweizer „vernetzten“ Betrieben. Aus den Interviewtexten geht (quantitativ) eine für die AutorInnen erstaunliche Abneigung gegen E-Mails im Betrieb hervor. Dabei interessiert sie, wie betriebsintern „Status“, „Rolle“, „Vertrautheit“ und auf diese Weise „Identität und Sozialität“ durch sprachliche Elemente vermittelt wird. Sie suchen nach den Abweichungen von Normen sowie Versuchen, mit „bekannten ‚Normen‘ Neues auszudrücken“ (S.267). Die Interviewten bezeichnen die persönliche „Face-to-Face“-Kommunikation als die wichtigste betriebliche Kommunikationsart. In den Mails finden sich Muster mit ähnlichen Strukturen (Groß/Kleinschreibung, Begrüßung/Verabschiedung, Duzen und Siezen, Fehlen syntaktischer Wohlgeformtheit, Neologismen und Anglizismen). Da interaktive mündliche Markierungsmöglichkeiten von „Status“ und „Rolle“ nicht zur Verfügung stehen, müssen sie in schriftlichen Texten explizit markiert werden. Vier (klassische) Markierungsarten lassen sich in den E-Mails ausmachen: Marker der eigenen Position, statushöhere und statusniedrigere Position sowie Nichtzuständigkeit. Hinzutreten Phänomene des Markierens von Vertrautheit, die auch Auswirkungen auf die Markierungsstrategien der papiernen Briefe zeitigen. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß die berufliche Netzkommunikation überwiegend sach- und themenzentriert gestaltet wird, jedoch auch am Arbeitsplatz vielfältige soziale Beziehungen kommunikativ bearbeitet werden müssen. Formen des elektronischen Schreibens ermöglichen dies in kreativer Art und Weise.

3. Schlußbemerkungen
Die Autorinnen grenzen sich von Ansätzen ab, die die Textbasiertheit sowie die Schriftlichkeit von E-Mails als nachrangig betrachten. Auch wenn Netzkommunikation mehr kommunikative Optionen als die traditionellen Medien bietet, fordern sie, daß das „mediale Geschehen in der betrieblichen Kommunikation (…) im Rahmen einer Konzeption digitalisierter Schrift rekonstruiert“ (S.276) werden muß. Während sie eine „Universalisierung der Schriftkultur“ für unwahrscheinlich halten, beschreiben sie die spezifische Funktion interner Schriftkommunikation als „hybride Form konzeptioneller Mündlichkeit im Modus medialer elektronischer Schriftlichkeit“. Für die künftige Unternehmenskommunikation müsse eine Balance zwischen Regulierung, Normierung und sozialen Kommunikationsbedürfnissen gefunden werden. Die Relevanz der Lösung dieser Frage ergibt sich aus der erwünschten Mitarbeiteridentifikation mit virtuellen Unternehmen, die sich immer mehr ausbreiten.

09.03.2001; KS