Hörmann, Sascha: Sind Telearbeiter anders? – Psychosoziale und sozioökonomische Aspekte moderner Arbeitsverhältnisse

Hörmann, Sascha: Sind Telearbeiter anders? – Psychosoziale und sozioökonomische Aspekte moderner Arbeitsverhältnisse, Peter Lang Verlag Frankfurt am Main 2000 (Dissertation). 215 Seiten.

Abstract
Mittels einer größeren Erhebung wird das gegenwärtige Potential an Telearbeitern in Deutschland abgeschätzt.

Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung

2 Telearbeit

3 Theoretische Grundlagen

4 Empirisches Vorgehen

5 Auswertung und Interpretation

6 Zusammenfassung und Ausblick

Bewertung
Vom theoretischen Ansatz und auch vom empirischen Ergebnis her eine bemerkenswerte Studie.

Inhalt

1
In der Einleitung bemerkt Hörmann, dass das Thema der Telearbeit in den jüngsten Jahren wieder an Aufmerksamkeit gewonnen hat; nicht zuletzt die Bundesregierung habe das Thema für sich entdeckt.
Sehr unklar in der Diskussion um die Telearbeit ist nach Hörmann, wie das Potential an Telearbeitern (ihr möglicher Anteil in der Gesellschaft) einzuschätzen ist. Den Grund dafür sieht der Autor in einer Betrachtungsweise, in der nur nach potentiellen Telearbeitsplätzen gefragt wird. Er dagegen will in seiner Arbeit fragen nach der Passung zwischen potentiellen Telearbeitern (Personen) und möglichen Telearbeitsplätzen (Umwelt), wofür er das Lebensraummodell von Kurt Lewin in Anspruch nimmt. Auf diese Weise, verspricht er, lässt sich ein realistisches Telearbeitspotential errechnen.

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In einer Durchleuchtung der bisherigen Literatur zum Thema wird darauf verwiesen, dass die Prognosen zur Ausbreitung von Telearbeit (überall) sehr weit auseinandergegangen sind. Aber auch die Zahlen zu ihrer faktischen Verbreitung schwanken beträchtlich. Zu den zuverlässigsten Zahlen rechnet Hörmann die folgenden für 1998 bzw. 1997 (Deutschland)
USA 11,1 Mio.
Europäische Union 6,2 Mio., davon 4 Mio im Vereinigten Königreich
Deutschland 0,9 Mio.
(S. 17 f — Zahlen nach Deges)
Eine Diskussion der Definitionen von Telearbeit zeigt dann, dass sie nach räumlichen, nach zeitlichen, nach technischen und nach rechtlichen Gesichtpunkten bestimmt werden kann. Als ein besonderes Problem sieht Hörmann, dass der Begriff der Telearbeit sich mit ihrer Ausbreitung verwischen könnte, wobei hierzu eine Prognose von Welf Schröter (1997) zitiert wird: „Das Bild der Telearbeit als eigenständigem Profil wird schrittweise aufgehoben hin zu einer Durchdringung aller Berufsgruppen und Branchen mit Elementen der Telearbeit.“ (S. 20) Für praktische Zwecke unterscheidet Hörmann als Formen der Telearbeit die mobile TA, die nach einer Studie des (Fraunhofer) IAO die Mehrzahl der Telearbeitsverhältnisse ausmacht, die alternierende TA (teils im Betrieb — teils anderswo), die nach der gleichen Studie ein gutes Drittel ausmacht, die Teleheimarbeit und die TA in Satellitenbüros (u.ä.), die ihrem Ausmaß nach an dritter und vierter Stelle folgen. (S. 33)
Zur Geschichte der Telearbeit sagt Hörmann, dass sie „gerade mal 30 Jahre“ umfasst; doch gäbe es „Vorläufer“, die bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen. Er spricht damit das in weiten Teilen Deutschlands aufgekommene ländliche (Textil-) Gewerbe im Verlagssystem an, das im 19. Jahrhundert unter dem Druck der Fabrikindustie verelendete. Die eigentliche Telearbeit habe Anfänge in den 1960er Jahren gehabt, und zwar als Projekt für Programmiererinnen eines britischen Unternehmens (FI Group); in den 70er Jahren wurde sie mit der Ölkrise unter dem Namen Telecommuting (Telependeln) bekannt als Verkehrseindämmungs-Möglichkeit; in den 80er Jahren folgten dann gezielte Versuche mit Telearbeit, wobei für Deutschland die Siemens AG und die Integrata AG als Vorreiter genannt werden; nachdem einige Jahre eher die wirklichen oder möglichen Nachteile (besonders von Gewerkschaftsseite) ins Auge gefasst wurden, habe man schließlich im Laufe der 90er Jahre die Vorteile von Telearbeit für alle Seiten gesehen. Dies gelte besonders für die alternierende Telearbeit, bei der man verschiedentlich einen positiven Einfluss auf Produktivität und Arbeitszufriedenheit festgestellt hat.
Hörmann berichtet von einer jüngst im Rahmen des TWIST-Projekts bei der BMW AG durchgeführten ausführlichen Nutzwertbetrachtung. „Das Ergebnis ist, dass der Gesamtnutzwert eines alternierenden Telearbeitsverhältnisses aufgrund von Zeiteinsparungen, Qualitäts-verbesserungen und erhöhten Flexibilitätspotentialen sowie einer verbesserten Mitarbeitersituation positiv ist, obwohl die Kosten für die Einrichtung eines Telearbeitsplatzes die montär bewertbaren Erlöse übersteigen können.“ (S. 61)

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Es folgt ein theoretisches Kapitel, in dem das Lewin’sche Lebensraummodell dargestellt wird. Lewin war davon ausgegangen, dass menschliches Verhalten in einer gegebenen Situation durch innere Bedingungen bestimmt wird, nämlich das „Wollen“ (Ziele) und das „Können“ (Fähigkeiten, Fertigkeiten) und außerdem dadurch, wie das für die Situation relevante „Dürfen“ (gesellschaftliche Normen) wahrgenommen wird; dabei kann es diesen Grundbestimmungen entsprechende Handlungsbarrieren geben. Es ist demnach ein Modell, in dem subjektive Bedingungen des Verhaltens herausgearbeitet sind. Dieses Modell nun will Hörmann auf die Bedingungen der Telearbeit insofern anwenden, als mit ihm die Lebensräume von Erwerbstätigen — seien sie zur Telearbeit bereit oder nicht bereit — beschrieben werden können. Als ein Beispiel bringt er die „normative Barriere“, dass eine Person nicht dem gesellschaftlichen Verdikt ‚Wer zu Hause ist, arbeitet nicht‘ verfallen will und aus diesem Grund dem Gedanken an Telearbeit fernsteht.

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Sodann wird das Untersuchungsdesign des empirischen Teils der Studie dargelegt, insbesondere ein Fragebogen, bei dem es um „Fragen zum täglichen Leben“, zu „Kommunikation und Medien“ und zu „Soziodemographie und Erwerbstätigkeit“ geht. Zum Letzteren gehört beispielsweise die Frage, ob oder inwiefern die Befragten abhängig bzw. selbständig beschäftigt sind.
Die (für Erwerbstätige weitgehend repräsentative) Erhebung stützt sich auf über 2700 Inter-views. Die vielen in jedem Interview abgefragten Items wurden zu Faktoren gebündelt und für jede befragte Person jeweils ein Faktorwert (zwischen – 5 und + 5) berechnet, der besagt, wie gut die Person durch den entsprechenden Faktor charakterisiert werden kann. Solche Faktoren betreffen zum Beispiel, was Lebensziele angeht, ‚hedonistische‘ Einstellung, ‚materialistische‘ Einstellung, ‚Zeitgeist‘-Beflissenheit.

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Auswertung und Interpretation. Um sich dem Potential von Telearbeitern zu nähern, macht Hörmann folgendes: Er kreuzt drei Ebenen miteinander, nämlich (1) ‚Nur im Büro arbeitend — nicht nur im Büro (alternierend) arbeitend‘, (2) ‚Als Unternehmer — als Arbeiter arbeitend‘, (3) ‚Mit Computer — nicht mit Computer arbeitend‘ und erhält auf diesem Wege die in der Tabelle aufgeführten (wie er weiß, ziemlich holprig klingenden) Kategorien, die er als Typen von Arbeitsverhältnissen auffasst.

Büro-Nichtcomputer-Arbeiter 11,0 % der Stichprobe
Büro-Nichtcomputer-Unternehmer 0,3
Büro-Computer-Arbeiter 20,1
Büro-Computer-Unternehmer 1,3
Alternierender-Nichtcomputer-Arbeiter 5,6
Alternierender-Nichtcomputer-Unternehmer 2,4
Alternierender-Computer-Arbeiter 3,3
Alternierender-Computer-Unternehmer 3,5

Sonstige 52,5
(S. 103)

Diese Kategorien werden anhand der Auswertungsergebnisse eingehend beschrieben, und es gibt einige bemerkenswerte Befunde:
— Die ‚Alternierenden-Computer-Arbeiter‘ leben zu 70 %, und damit weit überproportional, auf dem Lande. (S. 106. Dies erinnert an die Glaser’sche Sternenfels-Untersuchung.)
— Für die Gruppen mit beruflicher Computernutzung ist der Faktor ‚Zeitgeistorientierung‘ von größerer Bedeutung als für die übrigen. (S. 111)
— Die ‚Alternierenden-Computer-Arbeiter‘ sind weniger materialistisch eingestellt als die übrigen Gruppen. (S. 120)
Nach diesen und anderen Befunden kommt Hörmann auf das Lewin’sche Lebensraummodell zurück, aus dem er die Elemente Ziele des Einzelnen („Wollen“) und ihnen entgegenstehende Barrieren aufgreift. Aus dem Ersteren wird ein „Motivationsindex“ gebildet, der besagt, inwieweit die betreffenden Ziele mit der Option Telearbeit (so wie deren Bedingungen in der Literatur beschrieben sind) übereinstimmen. Aus dem Zweiteren wird ein „Barrierenindex“ gebildet, der ausdrückt, inwieweit den betreffenden Zielen Barrieren im Weg stehen. Aus beiden Indices wird dann ein „Telearbeitsindex“ formuliert, durch die Formel
(IM +1 / IB+1) – 1 = IT, wobei IM für Motivationsindex, IB für Barrierenindex und IT für Telearbeitsindex steht.
Dann wird dieser Telearbeitsindex an die untersuchten Gruppen (s. obige Tabelle) angelegt und es zeigt sich folgendes: Wie zu erwarten, haben die ‚Alternierenden-Computer-Unternehmer‘ und die ‚Alternierenden-Computer-Arbeiter‘, da sie ja de facto Telearbeiter sind, einen positiven Telearbeitsindex. Aber auch die ‚Büro-Computer-Arbeiter‘ haben einen (etwas niedrigeren) positiven Telearbeitsindex, während etwa bei den ‚Alternierenden-Nichtcomputer-Arbeitern‘ der Telearbeitsindex negativ ist. Hörmann rechnet nun den Anteil der ‚Büro-Computer-Arbeiter‘ auf die Erwerbstätigen der Bundesrepublik Deutschland hoch und kommt auf eine Zahl von ca. 6 Millionen. Diese Zahl ist für ihn die Untergrenze der potentiellen Telearbeiter in Deutschland. Die Obergrenze schätzt er als doppelt so hoch ein, weil in der seinen gekreuzten Ebenen nicht zuzuordnenden Befragungsgruppe (in der Tabelle unter „Sonstige“ gefasst) entsprechend viele potentielle Telearbeiter versteckt seien. Zwischen Unter- und Obergrenze nimmt er das arithmetische Mittel (9 Mio.), rechnet dem noch die rund 1 Million faktischer Telearbeiter in Deutschland hinzu und kommt zu dem Ergebnis: „Das wahrscheinliche Telearbeitspotential liegt demnach bei insgesamt 10,1 Mio. Beschäftigten, von dem zur Zeit etwa eine Million ausgeschöpft ist.“ (S. 158; die zuvor angegebenen Zahlen S. 157)
Hörmann weist dabei darauf hin, dass dieses Potential keine prognostische Größe für irgendeinen Zeitpunkt darstellt, sondern eine Zahl der heute aufgrund ihrer lebensräumlichen Bedingungen möglichen Telearbeiter.

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Ausblickend bemerkt der Autor, dass ihm eine Längsschnittuntersuchung von Personen vorschwebt, die eine Umwandlung ihrer Arbeit in Telearbeit durchgemacht haben.

Anmerkung: Eines hat die Studie sehr deutlich gezeigt: dass ‚berufliches Arbeiten mit dem Computer‘ eine besonders wichtige Voraussetzung für die Einführung von Telearbeit ist (wichtiger als etwa ‚Berufstätigkeit an alternierenden Orten‘). Prognosen zur Ausbreitung von Telearbeit, möchte ich behaupten, müssten demnach der erwarteten Ausbreitung von Computern als beruflichen Arbeitsinstrumenten folgen; solche Prognosen dürften umso zuverlässiger sein, je bessere Erfahrungswerte man dafür hat, nach welcher Zeit (durchschnittlich) computergestützte Arbeit in Telearbeit umgewandelt wird.

16.11.2001; MF