Goeudevert, Daniel: Mit Träumen beginnt die Realität – aus dem Leben eines Europäers

Goeudevert, Daniel: Mit Träumen beginnt die Realität – aus dem Leben eines Europäers, Rowohlt Verlag Berlin 1999. 223 Seiten.

Thema: Arbeit, Beschleunigungsfalle, Beweglichkeit, Center for Advanced Management, Steuerung.

Abstract
Ein aus der Industrie ausgestiegener Topmanager blickt über den Tellerrand bloßen Profitdenkens.

Inhaltsverzeichnis
(1) Einleitung: Scheidewege

(2) Wenn die Arbeit nicht wär‘ …

(3) Eine Kultur der Beweglichkeit

(4) Lernwelten

(5) Auf dem Weg nach Europa

Bewertung
Schön in der Freimütigkeit, schemenhaft in den Gedanken.

Inhalt

(1)
Im Abschnitt „Scheidewege“ stellt Goeudevert sich selbst vor als einen Nordfranzosen, der in seiner steilen Manager-Karriere viele Städte Europas gesehen hat, zuletzt Wolfsburg als Vorstandsmitglied von VW. Unabdingbare Managereigenschaften — zuhören können, Verstimmungen/Verhärtungen auflösen, andere ernst nehmen und auf sie eingehen — habe er auf seinem Weg lernen können; das Problem sei aber geworden, dass sich solche Eigenschaften im Berufsalltag erschöpften, ein eingeschränktes Leben hinsichtlich Familie und Freunden. Hinzugekommen sei, und dieses Problem habe er erst spät erkannt: der Berufsalltag und der professionelle Umgangston hat das übrige Leben „durch und durch imprägniert“ (S. 21); deutlich wurde ihm das, so berichtet er, als seine schon erwachsene Tochter ihm einmal sagte, er sei ihr Vater und nicht ihr Boss.
Ein Hauptproblem der jetzigen Zeit ist für Goeudevert die Unrast, der die Ungeduld auf dem Fuß folgt. Man begäbe sich allerdings in die „Beschleunigungsfalle“, wenn man glaubt, durch „Fitness-, Verschlankungs- und Rationalisierungsprogramme“ dem „mörderischen Tempo“ gewachsen zu sein (S. 30). Das Zeitempfinden selbst stehe zur Disposition. Wenn es im 19. und 20. Jahrhundert darum gegangen sei, den Raum zu beherrschen, so gehe es im 21. Jahrhundert um die Frage der Zeit.
Auch den Markt bzw. die Marktwirtschaft reißt Goeudevert als ein großes Thema der Gegenwart an. In der gegenwärtigen Aufgeblähtheit der Finanzmärkte, wo nur etwa 10 % der Börsensummen einen realen Gegenwert des Gütertauschs repräsentieren, hört er eine „Zeitbombe“ ticken. Die Marktwirtschaft sei ein „Herstellungs- und Verteilungsmechanismus“ und sollte als solcher zum Wohl der Menschen benutzt werden (S. 47 f). Wie das geschehen kann, dafür gibt Goeudevert zwei Beispiele: a) die Herstellung eines neuartigen Versandhauskatalogs, der nicht etwa noch dicker als seine Vorgänger ist, sondern auf wenigen Seiten eine Auswahl von unverzichtbaren, umweltfreundlichen und bedienungsfreundlichen Dingen enthält; b) die Schule machende Mikrokreditbank des Herrn Ynus in Bangladesh, mit der vielen armen Leuten auf die Beine geholfen wird. (S. 50 f)

(2)
Im Abschnitt „Wenn die Arbeit nicht wär‘ …“ umreißt Goeudevert seine Vision von einer neuen Verantwortung der (Privat-) Wirtschaft. Diese Verantwortung dürfe sich nicht nur auf die Aktionäre beziehen, sondern auch auf die, die zugunsten der Aktionäre auf der Strecke zu bleiben drohen. Das Profitstreben an sich sei nicht schädlich, aber die „Vergötzung des Profits“. Als ein Beispiel, wie solche Verantwortung getragen werden kann, führt er die Einführung der 4-Tage-Woche bei VW an, mit der eine Entlassungswelle umgangen werden konnte. Ein weiteres Beispiel, aus Kanada, ist ein Innovationspakt: Verschiedene Betriebe schließen sich für die Entwicklungsphase eines Produkts zusammen, wobei jeder Betrieb einen spezifischen Beitrag leistet; nach der Entwicklungsphase werden erwirtschaftete Gewinne dann verteilt.(S. 64-67)
Arbeitslosigkeit: Als Manager, sagt Goeudevert, war ihm dieses Phänomen nur statistisch bekannt. Konkretisiert habe es sich ihm, als nach seinem Ausscheiden als Manager sein Sohn — wie in einer Art Sippenhaft — von der gleichen Firma gefeuert wurde und lange Zeit arbeitslos wurde, woran dessen Familie beinahe zerbrochen sei.
Wichtig ist für Goeudevert, Arbeitslosigkeit nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit neuen Lernmöglichkeiten zu sehen. Vollbeschäftigung im gehabten Sinne werde es nicht mehr geben; vielmehr müsse man für die Zukunft damit rechnen, dass ein Teil der Bevölkerung ohne Arbeit ist, wobei diese arbeitsfreie Zeit der Weiterentwicklung des alten oder der Ausbildung eines neuen Berufs gewidmet sein kann. Zur Zeit würden jährlich rund 100 neue Berufe entstehen; dies zu verfolgen — auch wissenschaftlich — und sich darauf einzustellen, sei von großer Bedeutung (S. 87). Im übrigen vertritt Goeudevert die Devise: Weniger arbeiten, damit jeder arbeiten kann; weniger verdienen, damit jeder verdienen kann. (S. 89)

(3)
Unter „Kultur der Beweglichkeit“ reflektiert der Autor zunächst über die Kunst des Managements. Nicht Profitmachen sei die eigentliche Kunst, sondern „das betriebswirtschaftlich Mögliche mit dem volkswirtschaftlich und gesellschaftlich Nötigen zu verknüpfen.“ (S. 98) Der Manager der Zukunft wird nach Goeudevert Mitarbeiter motivieren, Kreativität und Risikobereitschaft fördern, und kann (ohne eine Rolle zu spielen) er selbst sein. (S. 104)
Der heutige Manager sei in einem System gefangen, das ihn verdonnert, in kürzest möglicher Zeit größt möglichen Erfolg zu haben; am Leichtesten gehe das durch Kosteneinsparung, besonders der Personalkosten. Als herausragendes Negativ-Beispiel gibt Goeudevert hier die Übernahme der Daimler-Benz-Führung durch Schrempp im Jahr 1995. Dieser kündigte damals großangelegte Entlassungen in der Firma an, woraufhin die Daimler-Benz-Aktien in die Höhe schnellten — ein Vorgang, den Goeudevert „pervers“ nennt. (S. 106)
Als ein Positiv-Beispiel, was Manager tun können, wenn sie den Wirklichkeiten des Arbeitens enthoben sind und es bemerken, erzählt Goeudevert eine Episode, die er in einem Londoner Hotel selbst erlebte. Dort war ihm ein sehr zuvorkommender Kofferträger begegnet, nach dem er sich bei der Abreise erkundigte, um ihm noch etwas zukommen zu lassen. Bei dem Kofferträger, so wurde ihm das Geheimnis gelüftet, handele es sich um den Generaldirektor. Er würde gerade die verschiedenen Stationen seines Hotels durchmachen, um sich wieder auszukennen.
Goeudevert plädiert dafür, das Modell „Führer und Gefolgschaft“ zur Disposition zu stellen und spricht von der „Teamarbeit von Mündigen“, die heute am besten motiviere. Die Schwierigkeit, sie zu praktizieren, sieht er darin, dass jeder von der Orientierung auf persönlichen Erfolg geprägt ist. Auch plädiert er für ein angemessenes Gewicht der Frauen in den Teams. Und so begründet es der Mann: Frauen kämen im Allgemeinen schneller auf den Punkt, sie seien neugieriger und kompromissfähiger, und sie neigten weniger zum Geschwätz.

„Beweglichkeit“ ist bei Goeudevert persönlich und in einem gesellschaftlichen Sinne ganz groß geschrieben, und er geht davon aus, dass diese Eigenschaft immer wichtiger wird. Zugleich gibt er zu seiner eigenen Verwunderung statistische Hinweise darauf, dass die Mobilität (Umzugshäufigkeit pro Person) bei uns in den jüngsten Jahrzehnten generell und besonders bei der jungen Generation rückläufig ist. (S. 127 f)

Hier scheint Goeudevert nicht zu sehen, dass die viel geforderte physische Beweglichkeit im Sinne des Wohn- und Arbeitsplatzwechsels an Grenzen gestoßen ist. Diese können allerdings auf einer höheren Ebene der Beweglichkeit, wie sie durch Telearbeit gegeben ist, überwunden werden.

(4)
„Lernwelten“ heißt der Abschnitt, in dem Visionen von einem flexiblen Theorie und Praxis-Erleben umrissen sind. Realisieren möchte Goeudevert sie (auch wenn es an Zuschüssen noch mangelt), in einem Bildungsinstitut in Dortmund, das ein „Center for Advanced Management, Projects and Utility Studies“ werden soll. Lehrende und Lernende (im Stand der Arbeitslosigkeit) sollen sich zwischen theoretischer und praktischer Ausgestaltung der Vorhaben hin- und herbewegen.
Dass der Name des besagten Centers auf Englisch erscheint, ist kein Zufall. Denn der Deutsch sprechende Franzose holländischen Namens ist ein entschiedener Befürworter von Englisch als Lingua franca der Europäer.

(5)
Konsequent lautet der letzte Abschnitt des Buchs „Auf dem Weg nach Europa“. Dieses Europa müsse eine „Sowohl-als-auch-Gesellschaft“ werden, in der das Eigene und das Fremde lebendig sein kann. Toleranz, Solidarität, Sympathie, Empathie die Tugenden.
Eine Hauptfrage für Goeudevert ist die Frage nach der Steuerung. Denn mit der Ausrichtung auf den Profit könne kein Land, keine Region, geschweige denn Europa regiert werden. Was nach Goeudevert gebraucht wird, ist ein Wechselspiel zwischen Wirtschaft und Politik, und dazu bietet er als, wie er zugibt, etwas technokratisch anmutende Analogie das Steuerungsmodell der Concorde: Als einziges Flugzeug habe sie neben den Piloten einen Bordingenieur zur Ausübung von Führungsfunktionen. Letzterer steht für die Politik, während erstere für die Wirtschaft stehen, der Kapitän für die Arbeitgeber, der Copilot für die Arbeitnehmer. Sie steuern im Normalfall, derweil der Bordingenier den Flug überwacht. Sobald ungewöhnliche Bedingungen eintreten, geht die Führung an den Ingenieur über, bis wieder Normalität herrscht. Und dieses Führungsmodell dient dazu, die Passagiere oder die Gesellschaft, um deren Sicherheit sich alles dreht, möglichst gefahrlos zu leiten. (S. 209-11)
Für die Politik, die oft hinter den Realitäten der Wirtschaft hinterherhinke, gibt der ehemalige Manager noch eine Anregung: In Unternehmen, zumal exportorientierten, gäbe es eine Tendenz zur Internationalisierung der Führungsgremien. Dementsprechend stelle sich die Frage, ob in Zukunft nicht ein Deutscher etwa als Wirtschaftsminister in Frankreich denkbar ist, oder ein Franzose als Verkehrsminister in Deutschland. (Für das Schattenkabinett Scharpings war die Idee geboren worden, das Wirtschaftsressort mit Goeudevert zu besetzen.)

Am Ende des Buchs wird als Haltung, wie aus Träumen Realität werden kann, der ermordete Vorsitzende der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen zitiert: „Wir müssen das, was wir denken, auch sagen, wir müssen das, was wir sagen, auch tun, und wir müssen das, was wir tun, auch sein.“ (S. 223)

15.11.2001; MF