Die Idee des Humanen

Die Idee des Humanen
Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer
Unser Gastautor, Wissenschaftjournalist, -historiker und -publizist Ernst Peter Fischer führt in seinem Beitrag aus, was es mit einer „humanen“ Nutzung der Informationstechnologie auf sich hat.

Bild: Philipp Rothe, 12.08.2020

Es geht der Integrata-Stiftung um eine humane Nutzung der Informationstechnologie, und bei aller Freude über dieses Vorhaben darf man fragen, was mit dem „humanen“ vor der Nutzung gemeint ist. Es geht Menschen natürlich immer um Menschen, vor allem den Menschen, die seit dem 17. Jahrhundert Wissenschaft treiben, um „die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern“, wie eine berühmte Formulierung lautet. Die Geburt der modernen Wissenschaft ist in einer humanistisch geprägten Kultur gelungen, denn die Anfänge des Humanismus finden sich im Italien der Renaissance. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gab es dort an Universitäten Gelehrte, die „studia humanista“ unternahmen und damit eine gute Bildung und geschliffene Manieren von Menschen fördern wollten. Dadurch gedieh „die Pflanze ´Mensch´ besser als anderswo“, wie Jacob Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance in Italien“ 1860 geschrieben hat. Die „Kultur des Humanismus“ bekommt zu Burckhardts Lebzeiten eine wissenschaftliche Grundlage, wie der Theologe Dietrich Rössler 1984 in einem Symposium über Grenzfragen der Medizin in einem Essay festgestellt hat, in dem er „Forschung und Humanität“ verbindet. Hier ist zu lesen:

„Fortschritt und wissenschaftliche Forschung gelten in der abendländischen Kultur als Grundlage und Voraussetzung aller Entwicklung von Humanität. Wissenschaftlicher Fortschritt und Fortschritt in der Humanisierung der Welt waren für eine große Epoche unserer Kulturgeschichte geradezu identisch. Vor allem das 19. Jahrhundert hat sichtbar gemacht, dass die Befreiung des Menschen von niederdrückender und entfremdeter Arbeit, die Erweiterung von persönlichem Lebensraum, die Vermehrung von Lebensqualität und Partizipationsmöglichkeiten an den unterschiedlichen Lebensformen erst denkbar geworden sind durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technik. Am eindrücklichsten konnte dieser innere Zusammenhang von Fortschritt und Humanität durch die Medizin belegt werden: Im Laufe weniger Jahrzehnte wurde eine unglaubliche Verminderung von Leiden und eine Befreiung von Krankheitsübeln Wirklichkeit, durch die die ganze Zivilisation verändert worden ist. Der innere Zusammenhang von Forschung und Humanität aber lässt sich auch als prinzipielles Motiv der Anthropologie ins Auge fassen: Der Mensch ist als weltoffenes ein experimentelles Wesen. Er ist für jeden Schritt seiner Weltgestaltung auf das Experiment als auf das elementare Instrument seiner Lebenspraxis verwiesen, und er hat deshalb mit Recht das wissenschaftliche Experiment als die dem Humanen gemäße Form der Weltbewältigung in die Grundlagen seiner Kultur aufgenommen.“

Ein humane Welt ist also eine Welt, in der gebildete Menschen sich auf die beschriebene Weise darum bemühen, ihr eigenes Leben und das von anderen zu erleichtern, und das bedeutet im konkreten Fall von Informationstechnologien, dass ein iPhone alle Wünsche erfüllt, die Menschen haben – in Kontakt mit Freunden und Familienangehörigen zu bleiben, über Ereignisse aktuell informiert zu werden, einen Weg zu einem Ziel oder durch eine Stadt zu finden, und manches mehr. Nützliches Wissen hat im Laufe der Geschichte große Lebensveränderungen mit sich gebracht und unter anderem zur Stiftung des Nobelpreises geführt, der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts für Leistungen vergeben wird, die den Menschen den größten Nutzen gebracht haben. Wer über den Nobelpreis nachdenkt, wird finden, dass er oder sie die meisten Laureaten schon vergessen hat, bevor sie in Stockholm ihren Preis entgegen nehmen konnten, während die ausgezeichneten Menschen in Erinnerung geblieben sind, die sich eher dem reinen Denken hingaben, ohne auf einen Nutzen aus zu sein. Das berühmte Beispiel ist Albert Einstein, der seine Mitmenschen 1930 gescholten hat, dass sie sich schämen sollten, wenn sie die Wunder der Technik nutzen und dabei von den Apparaten weniger verstehen als eine Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst. Humane Nutzung einer Technologie heißt dann, anders als eine Kuh mit den Dingen umzugehen und etwas von den raffinierten Mechanismen verstehen zu wollen, die einem iPhone erlauben, Bilder zu machen, Musik zu speichern und erklingen zu lassen, und überhaupt dafür zu sorgen, dass mir die ganze Welt in meiner Hand zur Verfügung steht und mit dem Wischen von Fingerspitzen auf ein Display gezaubert werden kann. Wie und wann ist die Welt überhaupt in solch eine Maschine gekommen und wer hat den digitalen Raum erschaffen und geöffnet, in dem sich das aktuelle Leben abspielt? Das lohnt doch ein Nachsinnen.

Das große Problem besteht darin, dass parallel zum Entstehen der wissenschaftlich bestimmten Welt in den 1960er Jahren das Ideal einer humanistischen Bildung geopfert wurde, was äußerlich sichtbar am Verschwinden des humanistischen Gymnasiums wurde. Seit diesen Tagen herrschen im Schulbetrieb Abwählbarkeit und kulturelle Unverbindlichkeit, und die Frage lautet, ob eine neue Art von Bildung Aufgabe und Wert der alten übernehmen kann. Die in den 1960er Jahren ausgelöste Bildungskatastrophe kam zum Höhepunkt, als 1999 ein Bestseller über „Bildung“ den Menschen „alles was man wissen muss“ vorstellte und dabei die Naturwissenschaften ausdrücklich – und unter dem Jubel der gesellschaftspolitischen Denkerinnen und Denker – aussparte. Seitdem sind die Menschen immer zuverlässiger die Kühe geworden, von denen Einstein gesprochen hat, und es macht Mühe, mit diesem Viehhaufen über eine „humane Nutzung der Informationstechnologie“ zu verhandeln. Die weltabgewandten Handynutzerinnen und -nutzer sind sämtlich höchst kompetent – beim Drücken der Knöpfen und Scrollen des Displays –, aber sie bleiben so ungebildet und dumm wie das iPhone trotz all seiner künstlichen Intelligenz selbst. Je dümmer, desto Handy, wird feststellen müssen, wer etwa an einem Bahnhof auf den Zug wartet, und dabei kann man nur traurig werden. Humane Nutzung meint, das Gerät nicht einzusetzen, um die Zeit totzuschlagen, sondern um mehr Menschlichkeit werden zu lassen. Weniger Kühe mit Kompetenz und mehr Menschen mit Manieren, wie sie im Rahmen der ursprünglichen „studia humanista“ herangezogen werden sollten. Ein humane Nutzung wird nur gelingen, wenn Bildung wieder in die Kultur einführt und nicht als Aus- oder Fortbildung die Menschen davon wegleitet. Wohin denn auch? Einbildung ist wörtlich „In-Formation“ und damit wichtiger als Ausbildung, auch wenn das Wort verpönt ist. Aber was soll man von einer Gesellschaft halten, in der jeder informiert sein will und niemand eingebildet sein darf?